Blindlinge und Sehling

„Wer von euch sind Blindlinge?“ – so startet Marco unser Workshop für Sehende und Blinde Menschen, die mehr über die Brailleschrift lernen wollen.

Das Papier, das ich mit nach Hause nehmen darf, ist etwas stärker als ein gewöhnliches DIN-A4-Blatt. Es ist vollkommen weiß – und trotzdem steht etwas darauf geschrieben. Kleine Punkte sind von hinten hineingestanzt und bilden Huppel auf der Vorderseite. Das ist die Braille-Schrift. Dieses Alphabet verwenden blinde und seh-eingeschränkte Menschen auf der ganzen Welt, egal ob ihre Muttersprache (von sehenden Menschen) in lateinischen Buchstaben oder chinesischen Zeichen geschrieben wird oder in einem anderen der über 100 Schriftsysteme, die es gibt.

Vom Braille-Workshop von Marco Rademann, der an diesem heißen Nachmittag im Ladenlokal der Kreativ Raum Börse in der Hauptstraße stattfindet, nehme ich aber noch mehr mit, als nur ein Blatt mit Huppeln und einen Info-Zettel mit dem gesamten Braille-Alphabet. Nämlich eine Erfahrung der ganz neuen Art und einen Knoten im Gehirn.

Es fängt schon damit an, dass meine ungeübten Fingerkuppen gar kein Gefühl für die Unterscheidung der Huppel haben: Wie bei einem Würfel besteht ein Buchstabe aus einem bis maximal sechs Punkten. Marco fährt mühelos mit beiden Händen über die Zeile und liest beinah so schnell wie Sehende. Sogar sein Jurastudium mit Staatsexamen hat er auf diese Weise bewerkstelligt – heute arbeitet er in einem Dunkelrestaurant in Kleinzschachwitz und engagiert sich im Stadtteil Johannstadt. An dieser Tätigkeit gefällt ihm, dass er auf keine Hilfe angewiesen ist, was im Alltag eines Anwalts kaum je der Fall sein wird.

Aber auch einen eigenen Text in Braille-Schrift zu erfassen, erweist sich als weitaus schwieriger als gedacht. Marco lässt uns zunächst das sogenannte „Tafelschreiben“ ausprobieren: In eine Plastikschablone mit keinen Fächern für jeden Sechspunkte-Buchstaben wird ein kleines, festes Blatt eingespannt und mit einem Piekser die einzelnen Punkte hineingestanzt. Das Werkzeug erinnert ein wenig an eine Lederpunze oder einen Stichel – und damit an die Entwicklung der Schrift durch den jungen Franzosen Louis Braille (1809-1852), der in der Sattlerwerkstatt seines Vater zwar durch einen Unfall erblindete, aber dort auch Inspiration für sein Würfel-Alphabet fand.

Punkte in ein Papier zu stanzen klingt einfach? Nicht, wenn man bedenkt, dass man von rechts nach links schreiben muss und jeden einzelnen Buchstaben auch noch spiegelverkehrt. Es fordert mein räumliches Vorstellungsvermögen ganz schön heraus.

Vermeintlich einfacher lässt es sich mit einer Braille-Schreibmaschine schreiben. Marco hat vier Erikas mitgebracht, noch in der DDR gefertigt. Sieben Tasten hat die Maschine: Eine Leertaste und dann für die linke Hand die Punkte 3, 2, 1 und für die rechte Hand 4, 5 und 6. Auch das erfordert aber ein Umdenken. Ich wünschte, die Schreibmaschine hätte einfach einen Würfel aufgezeichnet und man könnte den Buchstaben genauso ins Papier drücken, wie er aussieht! Bloß hätte das den Nachteil, dass jemand wie Marco, der das Schreiben auf der Maschine seit frühester Kindheit an in der Schule lernte, längst nicht so schnell wäre, wie er es heute mit beiden Händen ist.

Durch Computer und Sprachsteuerung gibt es heutzutage noch andere Hilfsmittel für die Kommunikation. „Aber ich wollte hier keine Hilfsmittel-Show anbieten, sondern einen Workshop zur Schrift!“

Am Ende kommen wir noch auf Sensibilität zu sprechen. Sein T-Shirt mit einer Stickerei in Braille-Schrift habe er sich zum Beispiel in der Farbe Rot im Internet bestellt – und es in Lila bekommen. Das sei, bei einem Webshop mit dieser eindeutigen Zielgruppe doch ein bisschen ulkig, um nicht zu sagen frech.

Gemeinsam versuchen wir den Text des T-Shirts zu lesen. Ja, es war ein erfolgreicher Tag, denn ich kann lesen: Bring es auf den Punkt. Für den alltäglichen Umgang mit Blindlingen, wie Marco sich selbst nennt, hat er eine klare Meinung: „Sprache darf man nicht zu schwer nehmen! Auch wenn ich euch nie sehen werde, dürft ihr gerne ‚Auf Wiedersehen‘ zu mir sagen.“

Birthe Mühlhoff


Dresden spricht …

Workshops, Rundgänge, Schreib- und Druckwerkstätten unter dem Motto „Sprache und Schrift. Dresden spricht viele Sprachen“

Zeitraum
03-12.2024

Projektbeteiligte
Yvonn Spauschus (Projektleitung)
Yulia Vishnichenko · Moussa Mbarek · Nadine Wölk · Rosa Brockelt · Yuliya Firsova · Martin Mannig (Workshopleitung)
Rosa Brockelt · Rosa Hauch · Falk Goernert · Birthe Mühlhoff (Moderation und Dokumentation)
Adina Rieckmann · Lydia Hänsel (Tourguides)
Inge · Mahsa · Karin (Ehrenamtliche Hilfe)

Kooperationspartner:innen
JugendKunstschule Dresden – Standort Passage, Omse e.V., Nachbarschaftshilfeverein, Stadtteilverein Johannstadt e.V., Malteser Hilfsdienste e.V., Jugendhaus LILA as well as Chinesisch-Deutsches Zentrum e.V., Lebenshilfe Dresden e.V., GEH8 Kunstraum und Ateliers e.V., Umweltzentrum Dresden – ABC Tische and many more

Gefördert durch

Das Projekt wird gefördert durch das Staatsministerium für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt. Diese Maßnahme wird mitfinanziert mit Steuermitteln auf Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes im Rahmen des Landesprogrammes Integrative Maßnahmen.