Im Juni 2014 brannte im Dorf Batagai das ehemalige Büro der Kooperative SEWER nieder. In den Räumen wurde das Archiv der Ege-Khaya-Mine und des YanLag aufbewahrt. Das YanLag war ein sowjetisches Strafgefangenen- und Arbeitslager, welches bis 1953 durch den sowjetischen Staat betrieben worden ist. Die Gefangenen mussten dort – an einem der kältesten Orte der Welt – Zinn abbauen, Verarbeitungsbetriebe errichten und logistische Aufgaben übernehmen. Trotz des Einsatzes der Gefangenen war der Betrieb unwirtschaftlich, weshalb das GuLAG im Jahr 1956 endgültig geschlossen wurde. Die Mine Ege-Khaya wurde danach noch bis 1973 weiterbetrieben. Tausende Personalakten von ehemaligen Gefangenen und Zivilisten, wurden in dem Archiv verwahrt. Durch den Brand wurde ein Großteil der Dokumente, und damit wichtige Zeugnisse zerstört.
Im Jahr 2020 war die russische Fotografin Evgeniya Zhulanova in der Region auf Recherchereise. Mitarbeiter aus dem Dorfmuseum haben sie gebeten sich die in Pappkisten lagernden alten Akten anzusehen. Die Fotografin reflektierte später, dass es für sie manchmal schwer zu verstehen war, was an diesem Ort geschah. Im Internet finden sich fast keine Quellen und Informationen über YanLag. Die Leute, die unter unmenschlichen Bedingungen Zinn für die UdSSR abgebaut haben, sind mit ihren Erfahrungen unter sich geblieben. Lange durften die Erfahrungen nicht öffentlich thematisiert werden. Viele der Zeitzeugen leben bereits nicht mehr. Ihre Nachfahren leben zum Teil noch heute in der Region. Einheimische mit polnischen und baltischen Nachnamen lassen dies erahnen. Die Akten mit den Biografien sind eine der letzten Gelegenheiten, ein unscharfes Bild der Menschen zu erhalten, ihren Schmerz, der so eng mit diesem Ort verbunden ist, zu spüren und manche ihrer Hoffnungen zu erahnen. Eine Auswahl an Dokumenten wurde extra für diese Ausstellung ins Deutsche übersetzt.
Evgeniya Zhulanova nutzt ein rotes Tuch als verbindendes Element zwischen den Nahaufnahmen von Akten und persönlichen Bruchstücken sowie den Landschaftsaufnahmen. Als kontrastreicher Hintergrund dient es für die Artefakte aus dem Dorf Batagai. Auch in den weiten Landschaften taucht das leuchtende Rot wiederholt auf. Ein Symbol für Gewalt und Willkür der UdSSR-Machthaber, Tod und Erfrierungen. Ein Erinnern an die Verstorbenen und Überlebenden dieses GuLAGs. Ein Mahnen, die Schicksale von mehr als 18 Millionen in GuLAGs inhaftierten Menschen nicht einfach auf die Halde der Geschichte zu verbannen.
Eine digitale Ergänzung zur Ausstellung der Galerie nEUROPA
Fotografien: Evgeniya Zhulanova
Übersetzungen: Elena Pagel
Kuration: Elena Pagel
Digitale Umsetzung: Simon Wolf
Texte: Evgeniya Zhulanova, Elena Pagel, Simon Wolf
Lektorat: Felicitas Wenzel
MEMORIAL
Der Umgang mit der Erinnerung an stalinistischen Terror und mit staatlichem Unrecht ist bis heute in Russland schwierig. Die Menschenrechtsorganisation ‚MEMORIAL‘ wurde noch während der Perestroika vom Friedensnobelpreisgewinner Andrei Sacharow gegründet. Ziel ist bis heute die Geschichte der GuLAGs im öffentliche Geschichtsbewusstsein zu verankern und den Opfern ein Gesicht zu geben. Im November 2021 hat die russische Staatsanwaltschaft die Auflösung der international anerkannten Organisation beantragt. Das Verbot von MEMORIAL würde die Aufarbeitung in Russland quasi zum Erliegen bringen. Vertreter aus Politik und Zivilgesellschaft in vielen Ländern protestieren deshalb seit dem Bekanntwerden des Antrags heftig dagegen.
Fotos oben links und rechts, Übersetzung
Lebenslauf
Ich, Korobejnikow Valentin Ivanovich wurde 1914 in Tschita, Dorf Ustj-Uljatui in einer Bauernfamilie geboren. Mein Vater ist Korobejnikow Ivan Ivanovich und meine Mutter ist Korobejnikow Ljubov Saveljewna. Meine Eltern haben vor der Revolution eine Viehzucht betrieben. Nach der Revolution betrieben sie Landwirtschaft. 1930 sind mein Vater und meine Mutter einer Kolchose beigetretet.
Ab einem Alter von 10 Jahren, im Jahr 1924, bis 1930 bin ich in die Schule gegangen. Danach habe ich mein Arbeitsleben begonnen und in einer Kolchose gearbeitet.
1933 ist unsere Familie in den Ort Tajga, Oblast Kemerowo, umgezogen. Dort habe ich bis 1937 als Bäcker in einer Bäckerei gearbeitet. Ich kündigte und bin nach Irkutsk umgezogen. Dort habe ich eine Anstellung als Bäcker bei dem GlawKhleb Kombinat gefunden und dort bis Mai 1939 gearbeitet. Ich kündigte und bin nach Yakutsk umgezogen. Dort habe ich als Bäcker bis März 1941 gearbeitet. Ab März 1941 war ich in Goldbergbausiedlung Burhala, Region Allach-Jun, und habe dort als Bergarbeiter bis Februar 1942 gearbeitet. Am 25.02.1942 wurde ich vom NKWD verhaftet und in das Gefängnis von Yakutsk überführt. Ich war dort bis zum 30.04.1943. Angeklagt nach Paragraf 58 II und zu 10 Jahre Freiheitsentzug verurteilt.
Im März 1943 wurde ich in die Yansk Bergbau- und Industrieverwaltung überführt. Dort habe ich meine Strafe verbüßt. Am 23.06.1950 wurde ich vorzeitig frei gelassen. Am 23.06.1950 habe ich Arbeit in der Yansk Vewaltung als Ladearbeiter erhalten. Ich habe dort bis zum 15.08.1950 gearbeitet. Mit meiner Zustimmung war ich bis 20.10.1953 der Bäckerei Nr.2, Siedlung Batagai, Yansk Vewaltung, zugewiesen. Danach habe ich die Stelle als Lagerleiter der Batagai Baugeschäftsstelle bekommen. Dort habe ich bis 01.10.1955 gearbeitet. Danach habe ich einen unbefristeten Urlaub bekommen und war bis 04.03.1956 in den zentralen Regionen des Landes unterwegs.
02.03.1956, Unterschrift
Foto oben links, Übersetzung
Hauptverwaltung Bauamt des Fernen Nordens NKWD UdSSR
Fragebogen
Rtov Grigory Nikanorovich
F R A G E | A N T W O R T |
1. Jahr und Ort der Geburt (Oblast, Region, Bezirk, Stadt, Dorf, Siedlung) | 1902, Kosakensiedlung Kopanovskaya, Bezirk Waschotayevsky, Region Stalingrad |
2. Nationalität, Muttersprache | russisch |
3. Sozialstatus (Arbeiter, Bauer, Mittelbauer, Kulake, Bürger, Adliger, Kaufmann) | Arbeiter |
4. Partei Mitgliedschaft (Mitglied oder Kandidat der WKP(B), WLKSM (Komsomol), geben Sie Eintrittszeit und Nummer des Mitgliedsausweises an) | nein |
5. Bestand eine Mitgliedschaft in der WKP oder anderen Parteien, wann, was waren die Austrittsgründe | Mitglied der WKPB von 1925 bis 1936, ausgetreten wegen Verurteilung |
6. Sind Sie Mitglied der Gewerkschaft, Zeitraum, Eintrittsdatum, Nummer Mitgliedsausweis | von 1917 bis heute Nr 044846 |
7. Staatsbürgerschaft | Bürger der UdSSR |
8. Schulabschluss a) allgemein b) Berufliche Bildung / Fachrichtung (wo / wann / Diplom) c) Weiterbildung / Fachkurse, wo /wann d) politische Bildung | a) ja b) Militärischer Ausbildung. Hochschule für Gewehrschützen, Stadt Taschkent 1925 d) Kommunistische Universität, Stadt Gorki |
9. Hauptberuf | Planer |
10. Fremdsprachenkenntnisse außer russisch | keine |
11. Strafrechtliche Verfolgung. Wenn ja, geben Sie an wo / wann / Artikel und Paragraf der Verurteilung / Datum der Freilassung / Entzug des Wahlrechts | Ja. In Jahr 1936 wurde ich durch Artikel 143-17 verurteilt. 5 Jahren Haft bis 1941. Verurteilung vom Militärtribunal, Jakutsk |
Foto oben links, Übersetzung
Lebenslauf
Ich, Karnauchov Nikolaj Grigorjevitsch, wurde in 1915 in Tschita geboren. Zwischen 1932 und 1935 habe ich eine Ingenieurschule abgeschlossen. Von 1935 bis 1936 arbeitete ich im WeTscheKa. Von 1936 bis 1938 arbeitete ich in der Verkehrsverwaltung.
Am 01.04.1938 wurde ich aufgrund der Paragrafen 111-16-18 Strafgesetzbuch und 27-7-38 verhaftet. Auf Anordnung des Yakutsker Volksgerichts wurde ich zu vier Jahren Haft im Lager Esse-Chaija verurteilt.
Am 24.11.1941 wurde ich aus dem Zwangsarbeitslager freigelassen.
20. April 1942, Unterschrift
Foto oben links, Übersetzung
Lebenslauf
Ich wurde im Jahr 1893 in Oblast Woronesch, Bahnhof Novo-Khapjorsk, in einer Bauerfamilie geboren. Meine Eltern haben vor und nach der Revolution einen Ackerbau betrieben. Ab dem Jahr 1902 bin ich drei Jahre lang in die Schule gegangen und habe die Schule abgeschlossen. Als ich 14 Jahre alt war, habe ich eine Arbeit in meinem Heimatort gefunden und meinen Eltern geholfen. Später bin ich an einem anderen Ort im Oblast Rjasansko-Uralskaja, (Bahnhof unleserlich), gegangen. 1913 habe ich geheiratet und eine andere Arbeit gefunden. 1920 wurde ich, als ich am Bahnhof Novo-Khapjorsk gelebt habe, Mitglied in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU). Im Jahr 1929 wurde ich wegen eines Saufgelages aus der KPdSU entlassen.
1922 wurde ich zur Roten Armee mobilisiert (6 Monate – Bewachung einer Schrankenanlage). Von 1918 bis 1939 arbeitete ich bei der Eisenbahn (Betreuung verschiedener Bahnübergänge). Von 1939 bis 1941 habe ich in Borissoglebsk, Oblast Woronesch, in einem Goldbergwerk gearbeitet. Nach Ablauf des befristeten Arbeitsvertrags, bin ich nach Jakutsk gegangen. Ich habe mich auf eine Stelle im Bergwerk bei dem NKWD beworben und habe dort bis 05.09.1944 als Bergmann gearbeitet. Aus dem Bergwerk “Burgawin” wurde ich im Auftrag der NKWD entlassen.
Auszug aus der Verwaltungsanordnung
29.09.1944, Niederlassung Esse-Chaija. Kripschin Semeon Jakovlevitsch wird am 27.09.1944 als Bergmann mit Pauschallohn zugewiesen. Leiter (Unterschrift): Aufseher von Bergwerk “Burgawin”, Ickovitsch
Evgeniya Zhulanova (Moskau, RU)
Fotografin, Fotojournalistin, Storytellerin
2014-2015, FotoDepartament Institut Moskau, Dokumentarfotografie
2015-2018, Rodchenko Art School Moskau, Dokumentarfotografie
Evgeniya arbeitet mit Museen und russischen Menschenrechtsorganisationen, wie Memorial International und dem Sacharow-Zentrum zusammen. Ihre Arbeiten wurden unter anderem hier publiziert: takiedela.ru – the-village.ru – lenta.ru – meduza.io – Русский репортер – Кот Шредингера – fotodoc.center – birdinflight.com – rbth.com
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