Am 12. August 2021 wurde die Ausstellung Hayk Bianjyan – Disappearing Memories in der Galerie nEUROPA eröffnet. Noch bis 28. September 2021 kann die Ausstellung besichtigt werden.
Rede zur Vernissage
von Kurator Matthias Schumann
Paradoxerweise existieren von der Architektur Jerewans – einer der ältesten Städte der Welt – kaum noch architektonische Zeugnisse, welche älter als 170 Jahre sind. Und auch diese Zeugnisse fallen oft postsozialistischen Privatinteressen zum Opfer. Gebäude, oder besser Bau-Werke, sind Teil des kulturellen Gedächtnisses einer Stadt (Aleida Assmann). Als dreidimensionale Codes repräsentieren sie den Zeitgeist ihrer Epoche und sind damit auch immer Gegenstände unterschiedlicher ideologischer Auseinandersetzungen innerhalb der Stadtgesellschaft, deren Teile um die „richtige“ Interpretation und damit oft um die Existenzberechtigung dieser Bauwerke streiten. „Jerewan ist eine Hauptstadt ohne Altstadt, in die sich die Schichten von Abriss und Neubau aus jeder Dekade eingeschrieben haben – und die Schichten der Nostalgie.“ (taz) Die gravierenden gesellschaftlichen Umbrüche der letzten beiden Dekaden spiegeln sich auch in den städtebaulichen Umbrüchen und Abbrüchen wieder.
Der armenische Fotograf Hayk Bianjyan, Jahrgang 1977, dokumentiert seit Anfang der 2000er Jahre das Verschwinden bekannter und weniger, markanter Gebäude in und um die armenische Hauptstadt Jerewan. Wo es ihm möglich war, erkundete er die Bauwerke vor ihrer Zerstörung. Hayk wuchs selbst in Jerewan auf und ist vor allem durch die Erzählungen seiner Großmutter über die Geschichte der Stadt und ihrer Orte eng mit Jerewan verbunden.
Um diese Gebäude und ihre Geschichte vor dem Vergessen zu bewahren, fotografiert Bianjyan von urbanen „Landmarken“ wie dem Jerewaner Zirkus oder dem Hotel Dvin – gebaut in der Sowjet-Zeit – über Gebäude von speziellem öffentlichem Interesse (Afrikiyan Haus) bis zu Privathäusern (profanen Profanbauten) (Rotes Haus, Haus Buzandstr. 9), welche im 19. Jahrhundert errichtet wurden. Alle diese Gebäude prägten das Gesicht der Stadt und waren Teil der urbanen Biografie.
Jerewan ist inzwischen überall (und war es wahrscheinlich schon immer). Nicht nur in den Ländern diesseits des ehemaligen eisernen Vorhangs werden in den Städten prägende Gebäude ohne Not abgerissen, fallen Architekturen, die das Gesicht einer Stadt prägen, ideologischen oder (privat-)wirtschaftlichen Interessen zum Opfer. Auch weltweit – ob in den USA, England oder Brasilien – verschwinden solitäre Bauten des letzten Jahrhunderts. Glücklicherweise formiert sich dagegen zivilgesellschaftlicher Widerstand. In Jerewan entstand dieser um die Jahrtausendwende. Heute schaffen sowohl lokale und regionale Initiativen wie SOS Afrikiyan in Jerewan oder die hier in Dresden ansässige OstModerne als auch weltweit agierende Netzwerke (SOS Brutalismus) ein Bewusstsein für den gesellschaftlichen, kulturellen und historischen Wert dieser Bauwerke.
Hayk Bianjyan wendet bei der fotografischen Dokumentation des Verschwindens der Gebäude verschiedene fotografische Strategien und Stile an, um die Prozesse des Verschwindens und des persönlichen und kollektiven Erinnerns zu verdeutlichen.
Er nutzt beispielsweise die klassische, humanistisch geprägte, dokumentarische Reportagefotografie, um eine vom (unerlaubten) Abriss ihres Hauses betroffene Bewohnerin zu portraitieren, die an der Zerstörung ihres Heimes tragischerweise selbst zu Grunde geht. In der Visualisierung des Abrisses des Roten Hauses wiederum bedient er sich der Technik der seriellen Fotografie, indem er den Abriss im Minutentakt aufnimmt und so den physischen Akt der Zerstörung eindrucksvoll sichtbar macht. Für die Auseinandersetzung mit dem in den 1970er Jahren gebauten Intertourist-Hotels „Dvin“ fotografiert er Postkarten- und Werbemotive des Hotels aus den 1970ern im bereits entkernten Hotelkorpus nach. Schließlich variiert er diese Technik am Beispiel des Zirkusgebäudes weiter, indem er die Abrissfläche des Zirkus mit alten Fotografien des Selbigen und Werbefotografien aus der Zirkusshow konfrontiert.
In einem weiteren Schritt geht Hayk Bianjyan über die rein „immaterielle“ fotografische Dokumentation und Archivierung des Abbildes eines Gebäudes hinaus, indem er reale Fundstücke – Eintrittskarten, Poster, Geschirr oder Geländerverzierungen – auf seinen Streifzügen durch die Gebäude fotografisch sammelt, inventarisiert und physisch archiviert. Seine archivarischen Aktivitäten sollen perspektivisch in der Etablierung eines Museums über die Stadt- und Architektur-Geschichte Jerewans gipfeln. Dieselbe Vision haben nicht zufällig auch Student:innen der TU Dresden für das Erbe der Ostmoderne der DDR-Architektur für die Räume der ehemaligen HO-Gaststätte Pick Nick („Dreckscher Löffel“) entwickelt. Jerewan scheint überall zu sein.
Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien