Geschichten und Erinnerungen von Barbara

Bei Treffpunkt ostZONE. Erinnern und gestalten wurde jede Biografie wertgeschätzt – generationsübergreifend und interkulturell. Einige Teilnehmende schrieben ihre Geschichten und Erinnerungen zum Leben in der DDR nieder oder erweiterten ihre persönlichen Sammlungen, die schon weit vor dem Projekt entstanden sind. Der Fokus lag auf kurzen Geschichten zum Leben und Alltag in der DDR.

Barbara übergab uns ihre Aufzeichnungen und stimmte der Veröffentlichung zu.

Plattenbaugebiet als Zentrum

Genau wie mit meinen ersten vier Kindern, übte ich auch mit meinen letzten zwei Söhnen im Grundschulalter fleißig. Besonders vor Klassenarbeiten gingen wir den Lehrstoff nochmals durch. In der 3. Klasse ging es im Fach Sachkunde in einer Arbeit um Geographie. Der Älteste von beiden bereitete sich intensiv darauf vor. Trotzdem passierte es. Eine Aufgabe bestand darin, fünf Länder Europas zu benennen. Da sein Vater ein ehemaliger DDR – Vertragsarbeiter aus Vietnam ist, holte er dieses Land gleich einmal nach Europa. Ist das nun gelungene Integration?

Sein jüngerer Bruder musste vier Jahre später auch diese Arbeit schreiben. Erneut übte ich auch mit ihm. Die Länder Europas kannte er. Nur fiel ihm unter dem Druck der Arbeit die Hauptstadt von Deutschland nicht ein. Ganz unkompliziert machte er Dresdens größtes Plattenbaugebiet Gorbitz zur Hauptstadt. Mit rotem Stift schrieb die Lehrerin ganz groß „Klasse“ dahinter. Versehen mit drei Ausrufezeichen. Auch ich habe eigentlich nichts gegen diese Idee einzuwenden. Ist doch der Draht nach „oben“ dann recht kurz für mich.

Regen überall

Unbezahlbar, wer Geschwister hat. Mit Bruder oder Schwester entwickelt sich zum Glück oft eine lebenslange Freundschaft, die sich durch nichts ersetzen lässt. Zwar streiten sich Geschwister auch hin und wieder – häufig im Kindesalter – jedoch der Zusammenhalt ist stärker. Besonders, wenn es gegen die Eltern geht.

Im November 1960 bekam ich zu meinem 3. Geburtstag neben einem Puppenwagen einen kleinen Regenschirm. Ich liebte ihn sehr. Auch Jahre später noch. Im Frühjahr 1964 gab es mal wieder einen Regentag. Es regnete in Strömen und wollte nicht aufhören. Fasziniert standen mein 3-jähriger Bruder und ich an der Balkontür und schauten und hörten dem Szenarium zu. Meine Mutter musste dringend einkaufen. Die Geschäfte waren gleich gegenüber. Sie entschloss sich, uns zu Hause zu lassen. Kein Betteln half.

Damals hatten wir noch kein Kinderzimmer. In der Stube nahm ich meinen Kinderstuhl aus der Spielecke und stellte ihn vor die Balkontür. Ein Stuhl vom Esstisch war schnell dahinter gerückt. Zuerst setzte ich meinen Bruder auf den Kinderstuhl und drückte ihm den aufgespannten Regenschirm in die Hand. Er besaß eine kleine Gießkanne mit Tülle. Ich stellte mich auf den großen Stuhl dahinter und ließ es regnen. Es hörte sich an, wie draußen. Dann wechselten wir.

In der Stube war zu DDR-Zeiten Spannteppich ausgelegt. Das war Filz als Untermaterial und darüber Linoleum. Dieses wurde dann am Rand gespannt und mit Leisten festgenagelt. Als meine Mutter wieder nach Hause kam, schwamm bereits die Stube. Sie hatte Mühe, alles schnell wieder aufzuwischen. Denn wäre das Wasser an einer Stelle unter das Linoleum gekommen, hätte der Belag ausgetauscht werden müssen. Meine Mutter ließ uns nie wieder allein.

Schreck in der Morgenstunde

Auf einer Messe gewann ich als kleines Kind per Los ein Kaninchen. Ich wusste nicht, dass es sich um ein schlachtreifes handelte. In einem kleinen Verschlag kam es bei meinen Eltern auf den Balkon. Als Erstes sah ich jeden Morgen nach meinem Murkel. Erst danach frühstückte ich. Wir zwei waren ein Herz und eine Seele. Nur welch ein Schreck! Eines Morgens war die Tür des Verschlages offen. Nirgends konnte ich meinen Murkel auf dem Balkon finden. „Es ist bestimmt vom Balkon gesprungen“, sagte meine Mutter. Entsetzt schaute ich nach unten. Nur, auch dort lag kein Kaninchen. „Ihr sagt doch immer, dass wir auf dem Balkon vorsichtig sein müssen. Wenn wir runterfallen, sind wir tot. Unten liegt unser Kaninchen nicht“, erwiderte ich. „Kaninchen sind klein und leicht. Sie überleben das. Es ist bestimmt davon gehoppelt“, tröstete mich meine Mutter. Ein wenig war ich beruhigt, aber immer noch traurig. Dass ich am nächsten Tag zu Mittag meinen Murkel gegessen habe, verschwiegen mir meine Eltern.

Ausflug im Trabi

Wir schreiben das Jahr 1986. Mein Bruder war damals 25 Jahre alt. Mit seiner Frau hatte er bereits zwei Kinder. Der Älteste war acht Jahre und die Jüngste vier Jahre alt. Leider besaß die junge Familie noch kein Auto. Meine Familie bestand ebenfalls aus vier Personen. Unsere Töchter waren sechs und drei Jahre alt. Und wir hatten einen Trabi. 

In den Herbstferien beschlossen wir einen Ausflug in die Sächsische Schweiz. Natürlich mit acht Personen. Im Felsenlabyrinth konnten sich die Kinder mal so richtig austoben. Die Sonne schien, keine Wolke war am Himmel zu sehen. Wir hatten unseren Spaß und waren glücklich und zufrieden. 

Als wir zurück auf den Parkplatz kamen, stand neben unserem Trabi ein Mercedes aus Westdeutschland. Ein älteres Ehepaar war gerade ausgestiegen. Wir beachteten sie nicht weiter. Sie aber uns. Wir öffneten die Türen. Zuerst stieg unsere älteste Tochter ein, dann der Sohn meines Bruders. Sie setzten sich hinten in die Mitte. Dann setzte sich meine Schwägerin auf die eine Seite daneben und ich auf die andere. Anschließend nahmen wir die 2 jüngsten Mädchen auf den Schoss. Mein Bruder nahm auf dem Beifahrersitz Platz und mein Mann auf dem Fahrersitz. Das ältere Ehepaar stand mit offenen Mündern an seinem Auto. Als mein Mann aus der Parklücke rausfuhr, sagte mein Bruder zu ihm: „Stopp mal.“ Er drehte die Scheibe runter und wandte sich an das Ehepaar. „Damit sie Bescheid wissen, meine Schwester, die hinter mir sitzt, ist schwanger.“ Er kurbelte das Fenster wieder hoch und meinte zu meinem Mann: „So, nun kannst du weiterfahren.“ Noch an der Ausfahrt vom Parkplatz konnten wir sehen, dass sich das Ehepaar keinen Schritt bewegt hat. Sie schauten uns noch immer nach. So etwas hatten sie bestimmt noch nicht erlebt.

Futterneid

Bei manchen Menschen sind die Augen größer als der Mund. Andere wiederum können gar nicht genug bekommen. Es ist manchmal erstaunlich, wie viel so ein Magen aufnehmen kann. 

Auch einige Kinder futtern so viel, wie der Teller hergibt und noch mehr. 

Einer meiner Jungen war so. Mit 18 Monaten kam er in die Kinderkrippe. Schnell merkte er, wo das Essen herkam. Oft entwich er den Erzieherinnen, die ihn dann suchten. Ein Lächeln konnten sie sich nicht verkneifen. Stets saß er seelenruhig vor dem Essenslift und harrte der Dinge, die da kommen. Es kam nur nichts. Selbst, wenn ich ihn abholte und die Kinder bei Sonnenschein im Garten spielten, sagte die Erzieherin zu mir: „Er sitzt wieder vor dem Essenslift.“ 

Im Kindergarten konnte er auch nicht genug bekommen. Es war die Zeit nach der Wende, als die Küchen in den Einrichtungen abgebaut und das Essen angeliefert wurde. Die Kindergärtnerin erklärte es den Kindern und meinte: „Ihr dürft mal probieren und sagen, wie es euch schmeckt.“ Mein Sohn ließ sich als Erster geben. Er aß schnell auf und stellte sich wieder an. „Danke, es hat gut geschmeckt.“, meinte er und hielt seinen leeren Teller wieder hin. Er war der Annahme, dass nach der Kostprobe das richtige Essen kommt. Völlig enttäuscht musste er begreifen, dass das bereits sein Essen war. Nach dem Essen holte ich ihn ab. Seine älteren Geschwister aßen nach Schulschluss zu Hause. Oft wollte er auch mitessen. 

Da er meistens nach dem Mittag bereits Kuchen wollte, musste ich zu einer Maßnahme greifen. Vor 15 Uhr gab es keinen Kuchen. Er schaute immer auf die Uhr. 

In der 9. Klasse stand ein Praktikum an. Er kam spät nach Hause. Trotzdem erklärte er mir, dass er dann noch Mittagessen haben möchte. ‘Na warte, mein Junge. Jetzt kriege ich dich.‘ , dachte ich. Als er kam, stellte ich ihm sein Mittagessen hin. Dazu ein Stück Obst, wie üblich. Auf dem nächsten Teller lagen zwei Stück Kuchen. Dahinter ein Teller mit zwei belegten Schnitten, denn es war bereits 18 Uhr. Dazu das Obst für das Abendessen. Mal sehen, wenn er streikt. Zu meinem Erstaunen aß er alles hintereinander auf, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich konnte nur meinen Kopf schütteln. 

Jetzt, mit 31 Jahren, hat er sein Essverhalten geändert, nachdem er merkte, dass über 90 kg Körpergewicht doch nicht ideal sind. 78 kg reichen zu. 

Nachlässigkeit

Gottes Mühlen mahlen langsam, jedoch sie mahlen. Dies gilt auch für weltliche Behörden und Ämter. Selbst Gerichte sind nicht ausgenommen. 

Im Sommer 2016 lag ein Gerichtsschreiben in meinem Briefkasten. Keiner mag solche Briefe. Ich auch nicht. Es stellte sich heraus, dass endlich der Versorgungsausgleich geklärt werden sollte. Fast 20 Jahre nach der Scheidung. Wow! Allerdings gab es ein Problem. Durch das Elbehochwasser im August 2002 wurden viele archivierten Akten vernichtet. Aus diesem Grund sollte ich Akten beibringen. Mein erster Gedanke war der, dass ich mein damaliges Aktenzeichen vom Sozialamt angebe. Vielleicht existieren dort noch die Unterlagen. Schließlich hatten sie jahrelang jedes Blatt für ihre Akten kopiert. Ich entschied mich anders. Eine Woche später rief ich beim Gericht an und vereinbarte mit der Bearbeiterin einen persönlichen Termin. Sie sollte selber schauen, was sie braucht. Ich hatte über 100 Seiten. Die nette Dame erklärte mir noch, dass sie im Anbau sitzt. Von außen kannte ich diesen. Ich nahm an, dort befinden sich nur Büros. Fehlanzeige! Als ich fünf Minuten vor dem Termin ankam, musste ich feststellen, dass auch hier Kontrollen durchgeführt werden. Ein wenig Panik stieg, wegen des Zeitdrucks, bei mir auf. Ich liebe Handtaschen mit mehreren kleinen Fächern. Dadurch muss ich nicht wühlen, sondern weiß stets, wo sich was befindet. Die Dame schaute zuerst in meinen Stoffbeutel mit den Akten. Dann öffnete sie von meiner Handtasche kurz das Hauptfach und ließ mich passieren. Puh, noch einmal gut gegangen. Pünktlich klopfte ich an der Zimmertür.  Nachdem wir alles geklärt hatten, fragte ich, was die Kontrollen im Erdgeschoss sollten. „Sie wissen doch, dass im Juli 2009 bei einer Gerichtsverhandlung die Ägypterin Marwa El-Sherbini erstochen wurde.“ „Ja.“ sagte ich. „Es geht auch um ihre Sicherheit. Die Kontrollen im Erdgeschoss sollten eigentlich gründlich sein. Schauen sie mal, was ich hier habe.“ Ich holte aus meiner Handtasche mein kleines Damentaschenmesser, was ich immer dabeihabe. Entsetzt sah mich die Bearbeiterin an. Bei der nächsten Dienstberatung wollte sie das Thema ansprechen. 

Anschließend hatte ich Zeit. Ich beschloss, noch einmal die Dame am Einlass anzusprechen. „Sie sollten etwas sorgfältiger kontrollieren.“, sagte ich ihr, „ich habe ein Taschenmesser dabei.“ Im besten Dresdner Dialekt antwortete sie mir: „Nu, warum sagen sie das nicht?“ Ich machte, dass ich nach draußen kam. Dort konnte ich einen Lachanfall nicht unterdrücken. ‘Am besten,’ dachte ich, ‘ihr hängt ein Schild über euren Tresen mit dem Text: Mordabsichten hier anmelden! Dazu Anmeldeformulare in mehreren Sprachen. Der letzte Abschnitt, vor der Unterschriftenleiste, sollte lauten: Unternehmen Sie nichts. Warten Sie auf unsere abschlägige Antwort. 

Eisträume aus Kindertagen

Es überkam mich wieder einmal. Kein Weg ging daran vorbei. Das Ziel zog mich magisch an. Endlich stand ich vor der original Eisbar an der St. Petersburger Straße in Dresden. Am liebsten hätte ich mir eine große Portion, eingehüllt in drei muschelförmigen Waffeln, gekauft. Nur mit 63 Jahren bekommt man Übergewicht schwerer wieder runter. Also eine mittlere Portion mit 2 Waffeln tut es auch. Obwohl dieses leckere Eis weniger Kalorien hat, als man glaubt. Das Eis tut der Seele gut. Es werden Kindheitserinnerungen wach. Oft stand ich mit meinen Großeltern oder Eltern am Fucik-Platz, dem heutigen Straßburger Platz, am mobilen Haselbauer-Wagen. Mein Bruder und ich freuten uns auf das Eis. Das Warten nahmen wir in Kauf. Sogar mit Kühltaschen standen Leute an. Durch kleine Spielchen verkürzte Opa oft die Wartezeit. Meistens wurde der Ausflug mit einer Fahrt in der Pioniereisenbahn (heute Kindereisenbahn) verbunden. 

Auch in der Jugendzeit endete ein Vogelwiesenbesuch bei Haselbauer. Manchmal kaufte man sich als Paar ein Eis. Zuerst schleckte man am Eis wechselseitig und anschließend seinen Partner/Partnerin ab. Erste kleine zarte, liebevolle Annäherungsversuche. 

Jahre nach der Wende war ich entsetzt, als ich von der Aneignung des Wortes – Haselbauer – durch eine fremde Person hörte. Zum Glück verfügt sie nicht über das Original-Rezept. Der Traditionsfamilie halte ich weiterhin die Treue und kann das Eis bestens weiterempfehlen. Schaut einfach mehrmals an der St. Petersburger Str. 32 vorbei.

Dornen und Stacheln

Auch wenn ich es mir kaum vorstellen kann, ich war einmal ein Kleinkind und mein Vater ein junger Mann. Mit Leidenschaft sammelte er Kakteen und Sukkulenten. Meiner Mutter waren es oft zu viele. 

Als ich 2 Jahre alt war, stand ein Umzug ins Haus. In der neuen Wohnung musste alles wieder an seinen Platz gestellt bzw. ein neuer gefunden werden. Das dauert seine Zeit. 

Eine Kiste mit den großen stachligen Kakteen stand noch auf dem Fußboden und wartete darauf, aufgeräumt zu werden. 

Am Abend durfte ich in die neue Badewanne. Welch ein Vergnügen! Ausgelassen planschte ich im Wasser. Als meine Mutter mich rausholte und abtrocknen wollte, entwischte ich ihr und rannte nass und nackig um den runden Esstisch herum. Dabei verlor ich die Balance und landete mit meinem Hintern in der Kakteenkiste. Schreiend legte mich meine Mutter auf dem Bauch auf unseren Esstisch. Mittels Pinzette holte sie mir in einer schmerzhaften Prozedur jeden Stachel und jede Dorne einzeln aus dem Hintern. Es dauerte seine Zeit, wie man sich vorstellen kann. 

Bis heute habe ich ein gespaltenes Verhältnis zu Kakteen. Ich erfreue mich lieber an Zimmerpflanzen.

Schlüpfrigkeiten

Wer kennt sie noch? Diese alten Baumwollschlüpfer, die ständig so rau waren und kratzten? Da sie wärmen sollten, gingen sie bis zum Knie. Schrecklich! Schon als 2-Jährige habe ich mich dagegen gewehrt. Ich wollte sie nicht anziehen und machte stets Theater. Damals wohnten meine Eltern noch mit meinen Großeltern gemeinsam in einer Wohnung. Meine Omi versuchte es öfters mit Überredungskünsten. „Schau, ich trage doch auch solche.“ sprach sie und hob als Beweis ihren Rock hoch. Es kam, wie es kommen musste. Schon Ende der 50er Jahre gab es beim Einkaufen Warteschlangen. Die sozialistische Wartegemeinschaft war bereits damals Realität. Mir wurde langweilig. Plötzlich fiel mir ein, dass meine Omi mir heute noch nicht ihre Unterwäsche gezeigt hatte. Mit der Lautstärke eines Kleinkindes fragte ich: „Omi hast du heute wieder den langen Schlüpfer an?“ Gleichzeitig hob ich ihren Rock hoch. Alle lachten. Nur meine Omi nicht. Mit hochrotem Kopf und mir an der Hand verließ sie den Laden. Nie wieder hob sie in meiner Gegenwart ihren Rock hoch.

Einkaufen macht Spaß

Anfang der sechziger Jahre wurden in der damaligen DDR die ersten Selbstbedienungsläden von der HO eröffnet. Mein Bruder ist im März 1961 zur Welt gekommen. An einem schönen Sommertag ging meine Mutter mit uns Kindern einkaufen. Friedlich schlief mein Bruder im Kinderwagen. Wie seinerzeit üblich, stellte meine Mutter den Kinderwagen vor dem Laden ab. Mit meinen 3 Jahren beobachtete ich alles. Meine Mutter nahm, wie die anderen Frauen auch, am Eingang einen Metallkorb. Dann legten sie aus den Regalen etwas in ihre Körbe hinein. Am Ausgang war ein Tisch, wo sich eine Verkäuferin befand. Dort gingen die Frauen vorbei und wechselten ein paar freundliche Worte mit ihr. Meine Mutter war beschäftigt. Also nahm auch ich mir einen leeren Korb. Am Süßwarenregal legte ich von jeder Schokolade zwei Tafeln bzw. Tüten in meinen Korb. Die Verkäuferin am Ausgang war beschäftigt und interessierte sich nicht für kleine Kinder. Außerdem wusste ich nicht, welche Aufgabe sie hatte. Draußen legte ich von jeder Sorte eine Tafel bzw. Tüte auf die Kinderwagendecke. Wenn er munter ist, wird mein Bruder sich schon bedienen, dachte ich. Selber setzte ich mich auf die Stufen vorm Laden und öffnete eine Tafel Schokolade. Ich konnte nicht verstehen, warum die Erwachsenen auf einmal so aufgeregt waren. Sie haben es doch auch so gemacht. Leider musste meine Mutter die angerissene Tafel Schokolade bezahlen. Alles andere konnte sie zum Glück zurückgeben. 

Kleine Kinder sollte man nie aus den Augen verlieren. Ihre Gedanken sind unergründlich. 

Falsche Interpretation

Ein großes und wichtiges Ereignis ist für jedes Kind die Schuleinführung. Der Tag wird regelrecht herbeigesehnt. Stolz trägt jeder seine Zuckertüte nach Hause. Die Fotos bleiben noch Generationen danach erhalten. Jedoch ist der Tag schnell vorbei und das Abenteuer Schule beginnt. Bei mir gab es gleich in der ersten Woche Schwierigkeiten. Und das kam so: zum Pausenklingeln erklärte die Lehrerin: „Liebe Kinder, morgen machen wir an diesem Punkt weiter.“ Danach verließ sie den Klassenraum. Es war ganz in meinem Sinn. Also nahm ich meinen Ranzen und ging nach Hause. Was die anderen Kinder machten, interessierte mich nicht. War deren Sache. Zu Hause angekommen, war meine Mutter total erschrocken. Wahrheitsgemäß erzählte ich ihr alles. Sofort brachte sie mich zurück zur Schule. Dort war der Lehrerin mein Fehlen noch nicht einmal aufgefallen. Diesen Satz hörte ich allerdings nie wieder von ihr. 

Später konnte sich meine Lehrerin auf gemeine Art und Weise revanchieren. In einem Diktat ging es ums Einkaufen. Bei der Rückgabe der korrigierten Arbeiten mussten ein Mitschüler und ich nach vorn. Unsere Lehrerin warf uns vor, dass wir gestohlen haben. „Das würde ich nie tun.“ kommentierte ich diese Anschuldigungen entsetzt. „Doch.“ erwiderte sie. „Ihr habt in der HO (Handelsorganisation der DDR) Milch, Eier und Butter gestohlen.“ Sofort war mir klar, worum es ging. Der Satz im Diktat lautete: Ich stelle in den Korb Milch, Eier und Butter. Mein Mitschüler und ich hatten jedoch stehlen geschrieben. Ich war erleichtert, dass der Vorwurf vom Tisch war. Diesen Fehler machte ich nie wieder.

Mein Wagen

Als ich ungefähr 8 Jahre alt war, wurde meine Mutter leider krank. Sie lag fast ausschließlich im Bett. Der Arzt machte Hausbesuche. Mein Vater konnte arbeitsbedingt nicht bei der Familie sein. Er kam nur aller 14 Tage zum Wochenende für 1,5 Tage, da damals auch sonnabends gearbeitet wurde. 

Ich half meiner Mutter so gut es ging. Fegen und auch meinen Bruder ins Bett bringen konnte 

ich. Unsere Nachbarin schaute laufend nach uns. Sie kochte auch für uns. Da sie aus Schlesien stammte, schmeckte mir das Essen besonders gut. Es war einmal etwas anderes. Auch einkaufen ging ich. Die Läden waren nicht weit. Meine Mutter schrieb den Einkaufszettel und legte das Geld dazu. Ich nahm meinen stabilen Puppenwagen. Meine Puppe musste zu Hause bleiben. Am Gemüseladen angekommen, stellte ich ihn davor ab. Ich ging hinein und übergab der Verkäuferin den Zettel und die Geldbörse. Anschließend wurde ich von der Verkäuferin besorgt gefragt: „Wie willst du das denn alles nach Hause tragen?“ Ich streckte mich und mit stolz erhobenem Kopf verkündigte ich für alle gut hörbar: „Draußen steht doch mein Wagen.“ Warum alle lachten verstand ich nicht. Meiner Mutter wurde diese Geschichte später zugetragen. So ist sie bis heute noch Gespräch in der Familie.

Experiment mit Radieschen

Jedes Jahr war meine Mutter öfters voll beschäftigt mit dem Einkochen von Obst und Gemüse. Für uns Kinder sah es nach viel Arbeit aus und wir mieden die Küche. Was uns aber nicht davon abhielt, heimlich Kirschen zu stibitzen. Auch grüne Bohnen schmeckten uns roh. Die fertigen Gläser kamen wohl geordnet, mit Datum versehen, in den Keller ins Regal. Eines Tages kam mein Vater auf die Idee, Radieschen einzukochen. Als Chemiker hätte er es eigentlich besser wissen müssen. Meine Mutter versuchte vergeblich, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Mein Vater übernahm sein Experiment höchst persönlich. Er verstaute seine zwei Gläser im Keller bei den anderen. Sechs Monate später kam meine Mutter mit den beiden Gläsern in der Hand aus dem Keller. Sie stellte sie auf den Küchentisch. In einer total milchigen Brühe waren nur vereinzelt rote Punkte zu sehen. Meine Mutter wollte die Gläser so, wie sie waren, entsorgen. Mein Vater bestand darauf, ein Glas probeweise zu öffnen und tat es auch. Ich rannte fluchtartig aus der Küche. Diesen fauligen modrigen Gestank hielt kein Mensch aus! Mir wurde schlecht und ich musste mich übergeben. Wochenlang hielt sich der Geruch, trotz ständigen Lüftens und Durchzug, in der Wohnung. Selbst heute noch, 55 Jahre später beim Aufschreiben der Geschichte, wird es mir gedanklich schlecht. Ich habe dann diesen üblen Geruch wieder in der Nase.

Nacktblende

Mein Vater war nicht nur leidenschaftlicher Kakteensammler. Er fotografierte auch sehr gern. Bei Spaziergängen, Feiern und Urlauben hatte er neben seinem Fotoapparat auch eine kleine Tasche mit verschiedenen Blenden bei sich. Öfters wechselte er diese an seiner Kamera. Es war die Zeit der Dias. Zu Hause erfolgten in regelmäßigen Abständen bei schlechtem Wetter die Diavorträge. 

Ich war damals 8 Jahre alt. Einmal vergaß mein Vater, ein Dia im Voraus raus zu nehmen. Es war ein Aktfoto von meiner Mutter, aufgenommen im Sommer im Abendlicht. Sie lag zwischen kleinen Tannenbäumchen. Ich war entsetzt. Schon am FKK-Strand hatte ich mich anfangs geziert, jedoch schnell daran gewöhnt. Aber das hier ging mir eindeutig zu weit. Ich stellte meinen Vater zur Rede. „Die Mutti war angezogen.“, beruhigte er mich. „Ich besitze eine Nacktblende. Diese blendet bei Menschen die Kleidung aus.“ Ich glaubte ihm und war für den Moment beruhigt. Allerdings hatte mein Vater zwei Jahre lang nun mit mir ein Riesenproblem. Ich ließ mich von ihm nicht mehr fotografieren. Die Angst, unbekleidet auf den Fotos zu erscheinen, war zu groß. Auch die Versicherung meines Vaters, dass er anfänglich gelogen hatte, half nicht. Ich glaubte ihm nicht mehr. Mit zunehmender Reife kam aber bei mir die Erleuchtung und Fotografieren war erlaubt. 

Sauer macht nicht immer lustig

Bereits bei meinen ersten Leseversuchen bekam ich von meinen Eltern die ABC – Zeitung zum Geburtstag geschenkt. Sie erschien einmal monatlich. Genauso, wie die Frösi (Fröhlich sein und singen). Nach den Anfangsjahren verdrängte diese bei mir die ABC – Zeitung. In der Frösi standen jedes Mal auch verschiedene Gerichte und Backrezepte zum Ausprobieren. 

Einmal entdeckte ich ein Rezept, nach welchem Sülze selbst hergestellt werden konnte. Mein Vater und ich aßen sehr gern Saures. Sülze war einfach lecker. Mein Vater war bereit, es mit mir zu probieren. Meine Mutter wurde beauftragt, die Zutaten zu besorgen. Sie wandte zwar ein, dass ein Druckfehler enthalten war. Ihrer Meinung nach war bei der Angabe der Essigmenge das Komma verrutscht. Da bei ihr Sülze nicht auf dem Speiseplan stand, wurde sie von uns überstimmt. Schon bei der Zubereitung stank die Küche nach Essig. Später aßen mein Vater und ich tapfer die Sülze, obwohl sie ungenießbar war. Die Blöße wollten wir uns nicht geben. Es dauerte nicht lange und uns wurde schlecht. Wir lagen in unseren Betten, wenn wir nicht gerade auf der Toilette waren. 

Einen Monat später erschien in der nächsten Ausgabe der Zeitschrift die Berichtigung. Der Druckteufel hatte zugeschlagen. Meine Mutter hatte recht. 

„Das haben wir am eigenen Leib gespürt“, war mein einziger Kommentar dazu. 

Der Affenbrotbaum

Zu meinem 13. Geburtstag bekam ich einen Affenbrotbaum geschenkt. Meine erste Zimmerpflanze. Ein Blumenstrauß stand immer auf dem Geburtstagstisch, aber noch nie eine Zimmerpflanze. Die Freude meinerseits war groß. Täglich kümmerte ich mich um sie. An Wasser mangelte es nicht, davon bekam sie von mir reichlich. Irgendwann ging sie ein. 

Zu meinem 14. Geburtstag wünschte ich mir ein Buch über Zimmerpflanzen. Ich bekam es auch. Schnell schlug ich es auf und wollte wissen, was ich falsch gemacht habe. Unter der Rubrik Affenbrotbaum war der erste Satz: „Der Affenbrotbaum ist eine unverwüstliche Pflanze.“ Wütend schmiss ich das Buch in die Ecke und habe es nie wieder benutzt. Bis heute habe ich keinen grünen Daumen. Entweder überleben die Pflanzen bei mir oder nicht. Meine Schwägerin hat mir schon einen kleinen Affenbrotbaum angeboten, um mein Verhältnis zu Pflanzen wieder gerade zu rücken. Ich zögere noch. 

Volksröntgenaktion in der DDR

Zur Früherkennung von Tuberkulose wurde in der DDR viel getan. Es gab regelmäßig Volksröntgenaktionen. Die bekannten Röntgenbusse waren gefragt und beliebt. Die Bevölkerung ließ sich stets röntgen. Auch ich kann mich noch gut an die Busse auf unserem Schulhof erinnern. Ein Röntgenbus war für die Frauen und der andere für Männer. 

Auch mein Vater ging zum Röntgen. Eines Tages klingelte es an unserer Tür. Meine Mutter öffnete. Zwei Männer standen davor. Sie fragten nach meinem Vater. Er war auf Arbeit. Meine Mutter wurde kreidebleich. Das Röntgenbild hätte ergeben, dass er sterbenskrank wäre. Direkt von seiner Arbeitsstelle musste er ins Krankenhaus. Meiner Mutter stand die Angst ins Gesicht geschrieben. Zum Glück klärte sich bald alles auf und die Farbe kehrte ins Gesicht meiner Mutter zurück. Auch mein Vater war erleichtert. Das Röntgenbild wurde verwechselt. Mein Vater war kerngesund. 

Ich hoffe nur, dass der Betroffene noch rechtzeitig gefunden wurde. 

Insgesamt gesehen, waren diese groß angelegten Aktionen zu DDR-Zeiten eine gute Sache. Dadurch konnte manches Leben gerettet werden.

Spickzettel

Seit Generationen von Schülern gibt es sie. Die Spickzettel. Für die Schülerschaft der verschiedenen Jahrgänge boten sich auch unterschiedliche Möglichkeiten. 

Wenn ich heute mit meinen sechs Kindern darüber rede, bekomme ich nur ein müdes Lächeln. 

Natürlich. Im Zeitalter der Technik gibt es ganz andere Möglichkeiten. Früher hat es aber auch Spaß gemacht. 

Manchmal habe ich zum Beispiel die offene Art des Spickens gewählt. Unser Klassenleiter war gleichzeitig unser Chemielehrer. Er war ein nervöser, fahriger und zerstreuter Mann. Obwohl mein Vater Diplom-Chemiker war, habe ich Chemie gehasst. In der 8. Klasse war in Chemie wieder eine Arbeit angesagt. Ich schlug das Chemiebuch direkt vor mir auf. Plötzlich bekam ich einen Stupser von meinem Banknachbarn. Es war leider zu spät. Unser Lehrer stand direkt hinter mir. Innerhalb von Sekunden entwickelte ich eine Idee. „Könnten Sie mir bitte mal diesen Abschnitt hier erklären. Ich verstehe es einfach nicht.“ Laut für alle erklärte er es bereitwillig. Ihm kam dabei gar nicht in den Sinn, dass wir gerade eine Arbeit schrieben. Meine Klassenkameraden grinsten und beugten sich über ihre Arbeit. Ich bedankte mich mit den Worten: „Jetzt sehe ich klarer.“ In Wirklichkeit verstand ich nichts. Sogar beim Korrigieren der Arbeiten merkte unserer Lehrer nichts, sonst hätte ich eine glatte Fünf gefangen. Das war zu DDR-Zeiten die schlechteste Zensur. 

In der 10. Klasse wählte ich Chemie als Prüfungsfach. Mein Klassenlehrer war entsetzt und stellte mich zur Rede. „Sie und mein Vater werden mich schon nicht durchfallen lassen.“ war meine Antwort. Mein Plan ging auf. Die Drei auf dem Zeugnis hat mir dann auch gereicht. 

Als Mädchen konnten wir damals Anfang der 70er-Jahre unsere super kurzen Miniröcke benutzen. Der Spickzettel war schnell angeklebt. Keine Lehrerin oder Lehrer würde es wagen, den Saum umzudrehen. 

Eine weitere Möglichkeit war die Westverwandtschaft meiner Eltern. Ich hatte eine kleine Kiste voller Kugelschreiber. In einem Klarsichtfeld war Werbung untergebracht. Drehte man am Stift, erschien eine neue Werbung. Diese Werbung konnte man entfernen und durch einen Spickzettel ersetzen. Nur musste ein Feld frei bleiben, für den Fall, dass der Lehrer neben einem stand. Da ich damals noch gute Augen hatte, konnte ich in kleiner Schrift viel unterbringen. 

Vieles fällt mir noch ein. Man kann ein Buch über Spickzettel schreiben. 

Noch ein paar passende Sprichwörter zum Schluss: Dumm darf man aussehen, man muss sich nur zu helfen wissen. Man muss nicht alles wissen, man muss nur wissen, wo es steht.

Pionierveranstaltung mit Folgen

Nach erfolgreichem Abschluss meiner Lehre im Sommer 1976 wurde ich der Abteilung Lohnbuchhaltung zugeordnet. Diese bestand aus 16 Frauen, wovon die Hälfte über 50 Jahre alt war und in absehbarer Zeit mit 60 in ihren wohlverdienten Ruhestand gehen würde. Es musste „frisches Blut“ rein. Folgerichtig wurde mir auch gleich die Aufgabe als Verbindungsfrau zur Patenklasse einer nahe gelegenen POS zugewiesen. Dabei unterstützte mich eine ältere Kollegin. Eine schöne Abwechslung im Arbeitsalltag. Zur Zeugnisausgabe überbrachte man kleine Geschenke. Auch bemühte sich die Patenbrigade, die Klassenkasse für Wandertage und andere Zwecke aufzufüllen. 

Im Sommer 1977 fuhr ich mit meinem Verlobten an die Ostsee. Einen Tag machten wir einen Abstecher ins nahe gelegene Polen. Unter uns Jugendlichen hatte es sich rumgesprochen, dass es in der grenznahen Stadt in einer Seitengasse einen kleinen Laden gab, der moderne Kleidung verkaufte. Wir entschieden uns für ein weißes T-Shirt mit Aufdruck auf der Brust. Mit großen fetten 

Buchstaben stand da in zwei Reihen gedruckt ein polnisches Wort. Wir konnten kein polnisch, aber das war uns egal. Die Buchstaben waren ausgefüllt mit der Flagge der USA. Sogar im Bindestrich war dies gut erkennbar. Aus einem Bauchgefühl heraus, ließ ich mir den Kassenzettel aushändigen. Ich hatte Bedenken wegen dem Zoll. Doch wir wurden nicht kontrolliert. 

Im September 1977 erhielten wir auf Arbeit die Einladung der Patenklasse zur 1. Pionierveranstaltung im neuen Schuljahr, wo auch der Pionierrat der Klasse gewählt wird. 

Am Morgen zog ich mein T-Shirt an und ging auf Arbeit. Nach dem Mittag machten meine Kollegin und ich uns auf den Weg. Als Abordnung der Patenbrigade saßen wir im Präsidium. Die Veranstaltung verlief ohne Vorkommnisse und wir freuten uns auf unseren vorgezogenen Feierabend. 

Gleich am nächsten Morgen zu Arbeitsbeginn musste ich mich bei der Abteilungsleiterin melden. Diese deutete auf mein T-Shirt und fragte: „Hatten Sie das gestern an?“ Daher weht der Wind, schoss es mir durch den Kopf. Entweder die Pionierleiterin oder die Klassenleiterin, vielleicht auch die Elternaktivvorsitzende hat mich beim Direktor der Schule verpetzt. Dieser rief wiederum den Betriebsdirektor an, welcher seine Wut an der Abteilungsleiterin ausließ. „Ja“, antwortete ich. „Was wagen Sie sich“, knurrte sie mich an. Mit unschuldiger Miene fragte ich zurück: „Wieso? Dieses T-Shirt habe ich im Sommer im sozialistischen Bruderland Polen in einem staatlichen Laden gekauft. Der Kassenzettel ist noch in meinem Besitz.“ Sofort wurde ich nach Hause geschickt, ihn zu holen. In der Zwischenzeit wurde meine Kollegin angehört, warum sie das Ganze nicht verhindert hat. Dann hörte ich reichlich 3 Wochen nichts. Bis ich doch noch eines Tages den Kassenzettel von der Abteilungsleiterin zurück erhielt. „In Polen ist nicht alles so, wie es sein sollte. Dort muss noch viel Aufklärungs- und Propagandaarbeit geleistet werden. Tragen Sie bitte ihr T-Shirt nur in der Freizeit.“ Und damit war die Sache abgetan. Viel Wind um nichts. 

Naivität

Campingurlaube stehen bei mir überhaupt nicht hoch im Kurs. Leider hatte man früher nicht viele Möglichkeiten, seinen Urlaub anders zu verbringen. Im Sommer 1977 bin ich mit meinem Verlobten an die Ostsee gereist. Im Gepäck hatten wir ein kleines Zweimannzelt, in dem man noch nicht einmal stehen konnte. Die Gegend war wunderbar. Tag und Nacht hörte man das Rauschen der Wellen. Leider war der Sommer sehr feucht. Am wohlsten fühlten wir uns abends im geheizten Zeltkino. Der Film war Nebensache. Danach wurde ein kräftiger Schluck aus der Flasche genommen. War man von innen gewärmt, ging es ab in den Schlafsack. 

Durch den Zeltplatz verlief eine asphaltierte Straße, die nachts stark beleuchtet war. Unweit fing der Wald an. Im Schlafsack gehüllt, hörte ich eines Nachts, wie sich einige Leute unterhielten. „Schaut mal, dort am Waldesrand. Das sind ja mehrere Bachen mit vielen Frischlingen.“ Ich bekam es mit der Angst zu tun. Hatten wir doch im Zelt, direkt an der Zeltwand, unsere Vorräte liegen. Unter anderem einen Sack Kartoffeln. „Die Wildschweine gehen nicht über die beleuchtete Asphaltstraße. Das trauen sie sich nicht“ beruhigte mich mein Verlobter. Ich glaubte seinen Ausführungen und schlief schnell und tief ein. Erst zu Hause erklärte er mir, dass er am nächsten Morgen Spuren um unser Zelt herum gesehen hat. Sogar das ist mir nicht aufgefallen. Am liebsten hätte ich ihn nachträglich übers Knie gelegt. Anderseits – eine riesige Naivität meinerseits lässt sich nicht leugnen.

Wo steht mein Bett?

Prag ist eine sehr schöne Stadt und nicht nur für Verliebte ein beliebtes Ziel. Es war das Jahr 1978. Mein Verlobter und ich verbrachten dort ein wunderschönes, verlängertes Wochenende. Ein Hotel war schnell gefunden. An der Rezeption schenkte man uns bei der Ankunft einen Stadtplan. Wir genossen die Tage. Am letzten Abend wollten wir uns die kleinen hübschen Bars näher anschauen. Zum Schluss landeten wir in einem Weinkeller. Es war gemütlich und schmeckte hervorragend. Der Wein tat sein Übriges. Gegen 2 Uhr in der Frühe verließen wir das Lokal. Mein Verlobter hielt sich an mir fest. Seine Sprache war alles andere als deutlich. Ich lehnte ihn gegen die Hauswand und kramte den Stadtplan hervor. Wie ich ihn auch drehte und wendete, ich fand keinen Ansatzpunkt. Im Gegenteil. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es sich um eine imaginäre 3 D Karte handelte. Auf der anderen Straßenseite beobachtete uns ein junger Mann. Ich bemerkte ihn nicht. Er kam herüber. Mit leichtem Akzent sprach er mich im perfekten Deutsch an. „Wohin willst du?“ „Na, ins Bett.“  war meine knappe Antwort. „Und wo steht dein Bett?“ wollte er lächelnd wissen. „Na, im Hotel.“ erklärte ich. Immer noch freundlich, versuchte er es weiter. „Und wo ist das Hotel?“ „Na, in Prag.“ kam meine spontane Antwort. Jetzt musste er laut lachen. „Da sind wir.“ war sein Kommentar. Zum Glück hatte ich einen Gedankenblitz. „Irgendwo auf der Karte muss ein Stempel vom Hotel sein.“ sagte ich. Er fand ihn. Das Hotel war gleich um die Ecke. Allerdings dauerte der Weg aufgrund unseres Zustandes eine Weile. Ich entlohnte den jungen Mann reichlich. 

Am nächsten Morgen wollten wir noch einen kurzen Spaziergang machen, ehe wir zum Bahnhof mussten. Vor dem Hotel wartete der junge Mann. „Na, brauchst du einen Stadtführer?“, bot er sich an. Ich erklärte ihm, dass es keinen Sinn hat. Mein Verlobter fragte mich: „Wann hast du ihn denn kennengelernt?“ Ich schüttelte nur den Kopf. „Selbst, wenn in deiner Anwesenheit Konkurrenz naht, bekommst du es nicht einmal mit.“ 

Ehekredit

In der DDR waren die jährlichen Zahlen der Trauungen hoch. Leider auch die der Scheidungen. Man heiratete sehr jung. Oft spielte auch die Aussicht auf eine Wohnung eine Rolle. Die Regierung förderte Eheschließungen mit einem zinslosen Ehekredit in Höhe von 5000 Mark. Natürlich waren daran ein paar Bedingungen geknüpft. Diese waren jedoch nicht sehr hoch. Für beide Partner musste es die erste Ehe sein. Keiner durfte älter als 25 Jahre alt sein. Und das monatliche Gesamtbruttoeinkommen durfte nicht über 1400 Mark liegen. Dann stand keine Hürde mehr im Wege. Man hatte ein Jahr Zeit, das Geld auszugeben. Vielen half das Geld bei der Einrichtung des eigenen Hausstandes. 

Bei der Geburt eines Kindes wurden 1000 Mark erlassen. Kam das zweite Kind zur Welt, waren es bereits 1500 Mark. Damit brauchte man nur 2500 Mark zurückzahlen. Wenn innerhalb von acht Jahren ein drittes Kind geboren wurde, bekam man alles zurück, was man bereits eingezahlt hatte. 

Im August 1979 heiratete ich. Mein monatliches Bruttogehalt betrug 699 Mark. Für meinen Mann war der August der letzte Monat seines Studentenlebens. Also konnten wir den Ehekredit in Anspruch nehmen. Unter anderem kauften wir davon eine Schrankwand. In der ehemaligen DDR waren solche Güter teuer. Im März 1987 erblickte unser drittes Kind das Licht der Welt. Somit waren die 5000 Mark ein Geschenk. 

Heute wünschte ich Brautpaaren auch diese Möglichkeit. Wäre begrüßenswert.

Der Freitaler Wasserfall

Nach meiner Hochzeit im Sommer 1979 zog ich zu meinem Mann nach Freital. Er bewohnte bereits eine kleine 2-Raum-Dachgeschosswohnung in einem 6-Familienhaus. Die Wohnung bestand nur aus drei Räumen – Küche, Stube und Schlafzimmer. Nur die Stube war beheizbar. Außerhalb der Wohnung befand sich das Plumpsklo. Das Schlafzimmer war bereits baupolizeilich gesperrt. In der Küche an der Spüle war die einzige Wasserstelle. Das Abwasser floss von der Spüle in die Regenrinne und von dort mittels Fallrohr in die Erde. Manchmal war es im Winter so kalt, dass mein Mann nach der Arbeit mittels Bunsenbrenner das vereiste Rohr unterhalb der Spüle wieder durchgängig machen musste. 

Im Juni 1980 kam unsere Tochter zur Welt. Es waren andere Zeiten. Jeden Tag wusch ich bei 95 Grad Celsius die Windeln in meiner WM 66. Auch war es seinerzeit üblich ein Neugeborenes täglich zu baden. Da ich nicht stillte, mussten auch die Flaschen stets ausgekocht werden. Das heiße Wasser kippte ich einfach in die Spüle. Vielleicht passierte es dadurch. Da am gesamten Haus der Putz nur noch bruchstückhaft zu sehen war, lösten sich die Schellen vom Fallrohr und es ragte schräg in die Luft. Wir meldeten dies noch am gleichen Tag mit entsprechendem Dringlichkeitsvermerk der Kommunalen Wohnungsverwaltung, kurz KWV. Was blieb uns übrig? In die Jauchengrube konnte ich das Wasser nicht schütten. Schließlich rechnete mein Mann aus, dass wir mit Baby täglich 250 – 300 Liter Wasser verbrauchten. Also goss ich es weiterhin in die Spüle. Der ehemalige Hausbesitzer hatte hinter dem Haus seine Werkstatt und ums Haus herum seine Grabsteine zum Verkauf aufgestellt. Also platschte das Wasser auf die Grabsteine. Von dort spritzte es gegen die Hauswand oder auf den Fußweg. 

Reichlich drei Wochen später war es immer noch nicht repariert. Eines Tages klingelte es plötzlich an meiner Wohnungstür Sturm, außerdem wurde wie wild geklopft. Ich öffnete und vor mir stand ein Mann etwa Anfang 50. Er fuchtelte wild mit einem Ausweis vor meiner Nase rum, so dass ich nichts erkennen konnte. Er schrie mich an, dass ich kein Wasser benutzen dürfte, bis alles wieder in Ordnung ist. Ganz ruhig sagte ich ihm: „Die KWV weiß es seit reichlich drei Wochen. Ich habe ein neun Wochen altes Baby und brauche Wasser. Sie können mir ihre Wohnungsschlüssel geben und selber derweil hier einziehen.“ Wütend, vor sich her fluchend, verschwand er wieder. 

Am nächsten Morgen klopfte es plötzlich gegen mein Küchenfenster. Ungewöhnlich bei einer Dachgeschosswohnung. Der Arbeiter auf dem Hubwagen meinte: „Lassen Sie jetzt mal bitte kein Wasser runter. Wir arbeiten daran.“ Ich konnte mir eine spitze Bemerkung nicht verkneifen: „Ach doch so schnell.“ Grinsend sagte er zu mir: „Wenn Sie auch dem 2. Parteisekretär von Freital kochend heißes Wasser über die Rübe schütten, tut sich was.“

Alles Banane

1979 verkündete Erich Honecker, dass es in der DDR keine Mangelwirtschaft, sondern nur vereinzelte Rhythmusstörungen in der Versorgung der Bevölkerung gäbe. Diese nahmen allerdings flächendeckend zu. Somit gab es auch im Büro immer weniger zu verwalten. Man beschäftigte sich anderweitig. Beliebt waren Scherze am 1. April. 

Meine Mutter arbeitete zu der Zeit an der beliebten Borsbergstraße in Dresden in einem kleinen „Tante-Emma-Laden“. Am 1. April rief ich dort an und gab mich dem Chef gegenüber mit verstellter Stimme als Mitarbeiterin vom Großhandel aus. „Entschuldigung, bei der vorhin ausgehändigten Bananenlieferung ist uns leider ein Versehen unterlaufen. Es handelt sich nicht um B-, sondern um A-Ware. Bitte halten Sie diese noch zurück. Unser Fahrer ist bereits mit dem korrigierten Lieferschein unterwegs.“  „Oh, vielen Dank“, kam vom anderen Ende der Leitung, „das ist ja gerade noch mal gut gegangen.“  Nachdem ich auflegte, mussten meine Kolleginnen und ich lachen. „Schade“, meinte ich, „er hat meine Stimme wahrscheinlich erkannt.“  Oder sollte vielleicht doch….. überlegte ich. Ach Quatsch, ausgeschlossen. Vorsichtshalber rief ich fünf Minuten später nochmals an und verlangte meine Mutter. „Mutti, den Aprilscherz soeben habt ihr doch erkannt und nehmt ihn mir nicht übel?“ fragte ich. Im ersten Moment war Funkstille. Dann gluckste meine Mutter. „Auch, wenn du es nicht glaubst“, sagte sie, „wir haben heute ein paar Bananen bekommen. Reicht natürlich nur für ausgewählte Kundschaft und ist B-Ware. Ich gehe jetzt zum Chef. Der steht vorm Laden und wartet auf den Fahrer. Du Scherzkeks, Tschüss“. Auf beiden Seiten wurde noch jahrelang über diese Geschichte geschmunzelt.

Die Täuschung

Endlich konnten wir aus unserer total nassen Dachgeschosswohnung in Freital ausziehen. Im Juni 1982 hatten wir endlich die Zuweisung für eine Plattenbauwohnung, im vorletzten Stock, in Gorbitz erhalten. Ohne meiner zweiten Schwangerschaft wären wir in der Dringlichkeit bei der staatlich gesteuerten Wohnungsvergabe nicht aufgestiegen. Im August 1982 zogen wir um. Das Umfeld sah noch schlimm aus. Kein Grün, nur Schlamm und Dreck. Ringsherum wurde noch gebaut. Der Block gegenüber stand schon da. Dahinter wurde die erste Kinderkombination (Krippe und Kindergarten) hochgezogen. 

Eines Tages schaute ich aus meinem Küchenfenster. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass sich alles dreht. Schnell setzte ich mich auf den Fußboden. Eine Schwangerschaft ist halt kein Spaziergang, dachte ich. Nach kurzer Zeit merkte ich, es geht mir blendend. Nach einem zweiten Blick aus dem Fenster wurde mir klar, dass der Kran gegenüber langsam abgesenkt und abgebaut wurde. Wie schön, ich hatte mich nur getäuscht.

Graue Gardinen

Meine Großcousine hatte in den 80er-Jahren ein kleines Einfamilienhaus aus dem Jahre 1930 in Reideburg bei Halle geerbt. Das Grundstück war schön groß und die Kinder hatten viel Platz zum Spielen und Toben. Das Haus lag idyllisch auf dem Land, es war ruhig ringsherum. Ideal für Großstädter zum Erholen. Ich genoss die Zeit dort. Bei der Gelegenheit wollte ich mich auch erkenntlich zeigen und nützlich sein. Das Haus hatte eine Eingangstür mit einem kleinen Fenster. Die Gardine, die dort hing, war bereits schwarz. Sie hatte bessere Zeiten erlebt. Auf der Toilette gab es ein noch kleineres Fenster mit einer noch kleineren Gardine. Sie sah nicht besser aus. Ich suchte mir in der Küche eine Schüssel und füllte diese mit lauwarmem Wasser. Anschließend nahm ich beide Stores ab und tauchte sie zum Einweichen hinein. Nach einer Stunde wollte ich sie per Hand waschen. Nur war mein Schreck riesengroß. Als ich sie herausnahm, hielt ich nur noch Fetzen in der Hand. Welch ein Glück, dass kein Spiegel in der Nähe war. Mein dummes Gesicht hätte ich nicht sehen wollen. Es war mir äußerst peinlich. Ich musste das Versehen meiner Großcousine beichten. Gleichzeitig versprach ich ihr, neue Stores zu besorgen. Sie winkte ab. „Ich wusste, dass die Gardinen nur noch vom Dreck zusammen gehalten werden. Deshalb ließ ich sie so hängen, wie sie waren.“ Das war ihr einziger Kommentar dazu. Diese Lebenseinstellung ist bestimmt Nerven schonend und schützt vor einem Herzinfarkt.

Der kleine Unterschied

Irgendwann merkt jedes Kind, dass auf Erden zweierlei Geschlecht wandelt. Bei meiner Ältesten war dies 1983, zu Beginn ihres Kindergartenlebens, der Fall. Im Kindergarten sind die Toilettenbecken auf die Bedürfnisse der Kleinen abgestimmt und entsprechend niedrig. Wegen der Sicherheit gibt es keine abschließbaren Kabinen. Meine Tochter hat wahrscheinlich beobachtet, dass es Jungs gibt, die im Stehen pullern. Zu Hause versuchte sie es auch einmal, indem sie sich auf die Toilettenbrille stellte und so urinieren wollte. Das ging natürlich völlig schief. Sie traute sich nicht wieder runter und schmutzig war auch alles. Nach diesem gescheiterten Versuch schien ihr der Kindergarten dafür geeigneter. Sie wurde von der Kindergärtnerin erwischt. Das Theater war groß. Selbstverständlich hatte ich ihr zu Hause schon mit Hilfe eines kindgerechten Buches den Unterschied zwischen Jungen und Mädchen erklärt. Trotzdem wollte es meine Tochter wissen. Beim 2. Versuch stellte sich meine Tochter einfach im Waschraum über den Abfluss im Fußboden. Wiederum wurde sie erwischt. Dieses Mal wurden sogar meine Erziehungsmethoden in Frage gestellt. Ich musste zur Leiterin zu einem klärenden Gespräch. 

Erst als ein Junge der Gruppe einen heftigen Balltreffer im Schritt abbekam, akzeptierte sie ihr Mädchendasein und war zufrieden und glücklich. 

Freesien im Oktober

Meine Omi väterlicherseits siedelte im Frühjahr 1977, nach dem Tod meines Opas, von der DDR in die BRD über. Zwei ihrer Söhne lebten dort. Sie war bereits 74 Jahre alt. Ende Januar 1983 stand ihr 80. Geburtstag an. Ich bekam eine Einladung. Da mein zweites Kind Ende 1982 kommen sollte, entschied ich mich zu einer Besuchsreise. Im November 1982 wollte ich in Dresden im Polizeirevier Tharandter Straße einen Antrag stellen. „Sie wollen für ein Rentnerpaar die Anträge abholen?“ wurde ich gefragt. „Nein“, sagte ich, „ich möchte meine Omi in der BRD besuchen.“ Nochmals wurde nachgefragt: „Sie wollen Westbesuch empfangen?“. „Nein“ wiederholte ich. Verdutzte Gesichter auf der Gegenseite. Mir wurde mein Ausweis abgenommen. Ich wartete. Irgendwann erschien ein Schrank von einer Polizistin und führte mich in ein extra Zimmer, dessen Fenster vergittert waren. Sie fragte mich ausführlich nach der Reise. Ich musste den Anlass angeben, den Zeitraum und wer mitfahren möchte. Dann verließ sie den Raum und schloss mich ein. Hochschwanger saß ich nun 40 Minuten lang allein in dem Zimmer. Danach kam sie wieder und verkündete mir, dass ich nicht zu dem Personenkreis gehöre, der eine Besuchsreise genehmigt bekommt. Ich bekam meinen Ausweis wieder und durfte gehen. 

Im Oktober 1987 wurde der jüngere Bruder meines Vaters, welcher mit seiner Familie in Hürth wohnte, 50 Jahre alt. Wieder startete ich einen Versuch. Dieses Mal gelang es dank der Reiseerleichterungen. Hocherfreut startete ich die Reise und kam abends in Köln an. Am nächsten Morgen wollte ich für meinen Onkel zum Geburtstag einen kleinen Blumenstrauß kaufen. Der Blumenladen war leer, kein Kunde zu sehen. Meine Augen wussten gar nicht, wohin sie zuerst schauen sollten. Und es duftete stark nach Freesien. Moment mal, dachte ich, wir haben Oktober. Freesien sind Frühjahrsblüher. Mein Blick fiel auf einen Eimer mit Freesien, der neben der Ladentheke stand. Die Verkäuferin kam und begrüßte mich freundlich. Ich zeigte mit dem Finger auf den Eimer. „Sind das Freesien?“ „Oh, Entschuldigung“, meinte sie, „ich vergaß die Schaufensterware zu entsorgen.“ Schnell verschwand sie mit dem Eimer nach hinten. Für mich unfassbar. Zu Hause bekam ich zu den Geburtstagen meiner Kinder kaum Blumen. Gehen Sie mal in der DDR am 12. Juni – Lehrertag – mit diesem Anliegen los. Aussichtslos. Am 24. Dezember haben wir Frauen im Krankenhaus geschmunzelt, weil die frisch gebackenen Väter die Alpenveilchen der Mütter oder Schwiegermütter geplündert haben, um nicht mit leeren Händen zu kommen. Mein Sohn kam am 8. März zur Welt. Den Frauentag konnten Sie blumentechnisch in der DDR vergessen. 

„Sie stammen wohl aus der DDR?“, fragte mich die Verkäuferin mitleidig. Ich konnte nur nicken. Die gekauften Blumen trug ich stolz, wie einen Brautstrauß, vor mir her. 

Ich durfte sogar ein zweites Mal in die BRD fahren. 1988 begleitete mich meine Schwägerin. Dieses Mal ging es zum Bruder meiner Mutter nach Bückeburg. Auf der Familienfeier war, außer uns zwei, keiner unter 60 Jahre alt. Eine Bekannte meinte: „Hier habt ihr etwas Geld. Geht und kauft euch ein paar Strumpfhosen. Es ist hier nur langweilig für euch. Aber nur die.“ „Danke schön“, meinten wir höflich, „wo sollen wir sie denn kaufen?“. „Egal“, war die Antwort. „Supermarkt, Rossmann-Drogerie – wo ihr wollt. Aber nur die.“ „Sehr gern und welche sollen wir kaufen?“ „Na, nur die. Das sind die Besten, die haben Qualität.“ Wir waren verwirrt. Eine kurze Weile ging das Gespräch in diesem Stil weiter. Dann wurde es meinem Onkel zu bunt. Er fauchte die Bekannte etwas barsch an: „Jetzt sage ihnen endlich, dass nur die eine Marke ist.“ „Ach so“, meinte ich, „nun ist alles klar. Übrigens, wenn ich dich bei mir zu Hause nach Immergut losschicke, ist dir auch nicht klar, dass es sich dabei um Kaffeesahne handelt.“

Das pupsende Kleinkind

Erwartungsvoll saß die gesamte Familie am festlich gedeckten Kaffeetisch. Der Kuchen sah schon lecker aus, der Kaffee duftete. 

Mein 1-jähriger Sohn saß im Kinderstühlchen neben mir. Traurig schaute er mich an. „Was hast du denn, mein Liebling?“ fragte ich. Die Antwort kam prompt. Für alle gut hörbar entwich die Luft aus seinem Körper in die Windel. Er strahlte mich an. Ich lächelte zurück. „Du darfst das noch. Jetzt bist du erleichtert. Schön.“ Alle lachten. Plötzlich erhob mein Bruder seine Stimme. „Dass er sich erleichtert fühlt, sieht man ihm an. Aber eigentlich sind es doch Gase, die in dem Moment unserem Körper entweichen. Und Gase sind leichter als Luft. Also müssten wir doch schwerer werden.“ Sofort stiegen die Männer aus der Runde in die Diskussion ein. Sogar die Kühe wurden erwähnt, auch das immer größer werdende Ozonloch. Bei Anwesenheit eines Biologen, eines Chemikers und eines Physikers wollte das Thema kein Ende nehmen. Nach 30 Minuten beendete ich die hitzige Debatte mit den Worten: „Jetzt ist Schluss. Ich möchte meinen Kaffee genießen.“ 

So konnte auch 23 Jahre danach noch kein abschließendes wissenschaftliches Fazit gezogen werden. 

Pädagogik, die nicht griff

Bei dem Thema Versicherungen erhitzen sich auch außerhalb der Medien die Gemüter oft und schnell. Meistens wird geschimpft – zu hohe Beiträge und im Schadensfall wird nur zögerlich bezahlt oder überhaupt nicht. 

Vor vielen Jahren konnte ich ebenfalls in dieser Richtung meine Erfahrungen machen, jedoch anders als gedacht. Und das kam so: 

Mein Versicherungsmann war eine Naschkatze. Kein Nutella-Glas war vor ihm sicher. Er wusste, dass ich stets eins im Küchenschrank hatte. Wenn er im Wohngebiet dienstlich unterwegs war, rief er vorher bei mir an und lud sich zu einem 2. Frühstück ein. Ich hatte nichts dagegen. War es doch eine gelungene Abwechslung und man konnte sich austauschen. 

Eines Tages, kurz vor den Sommerferien, war es etwas später geworden. Der Mittag nahte. Mein Sohn, der die 6. Klasse besuchte, kam aus der Schule. Sofort überreichte er mir einen Brief. Ich erfuhr, dass er wegen unsachgemäßer Behandlung zwei Schulbücher bezahlen musste. Sofort zog ich ihn zur Rechenschaft. „Wie oft habe ich euch erklärt, dass man Schulbücher ordentlich behandelt?“, schimpfte ich. „Woher soll ich jetzt das Geld nehmen?“ Anstatt mir zu antworten, schaute er unseren Versicherungsmann nur herausfordernd an. Dieser reagierte prompt. „Derartige Schludereien bezahlt keine Versicherung“, meinte er, „Ich werde es dir beweisen. Das entsprechende Formular habe ich mit. Wir füllen es jetzt aus und du unterschreibst. Da du noch minderjährig bist, muss auch deine Mutti unterschreiben. In etwa drei Wochen bekommst du Post. Und das steht dann ganz dick als Überschrift Ablehnung. Du kannst ja lesen.“ Nach drei Wochen griff ich zum Telefonhörer. „Es steht ganz dick Bewilligung da“ konnte ich nur sagen. „Die ganze Pädagogik im Eimer“, kam vom anderen Ende der Leitung. 

Ich musste nun meinem Sohn klar machen, dass Schulsachen ordentlich zu behandeln sind. Er feixte nur. 

Jahre später kam der jüngere Bruder aus der Schule und fragte mich: „Mutti, deine Versicherungspolice hast du doch noch?“ Mir war alles klar.

Ernst muss weg

Jeden Morgen, nach dem Aufstehen, öffne ich das Fenster und lasse die frische Morgenluft herein. Im Bad lächele ich mein Spiegelbild an. Gern lasse ich mich vom beginnenden Tag verzaubern. Warum sehen viele alles negativ? 

Ich sehe mich im Geist als 6-jähriges Mädchen mit der Zuckertüte in der Hand. Alle gratulieren mir. Allerdings mit dem Zusatz: „Jetzt beginnt der Ernst des Lebens.“ Ich fand es faszinierend, wie aus einzelnen Buchstaben durch Aneinanderreihen Worte wurden. In der 5. Klasse kamen neue Fächer und neue Lehrer hinzu. Wieder wurde von vielen der Ernst zitiert. Derweil ist es interessant, zu begreifen, warum es am Äquator heiß und am Nordpol kalt ist. Der Zauber der Natur – wie es funktioniert. Mit Beginn der Lehre kam der Ernst angeblich mit. Auch zu meiner Hochzeit musste er laut Allgemeinheit mitfeiern. Die erste Schwangerschaft wurde vom Ernst betreut. Nur ich sah ihn nicht. Ich sah lediglich das Wunder der Natur, wie in meinem Bauch ein kleines Wesen sich entwickelte. Beim zweiten Kind hieß es: „Aber jetzt geht es los. Denn ein Kind ist kein Kind. Erst beim zweiten beginnt die Arbeit.“ Ich genoss regelrecht die Zeit. Zu meinem Glück ließ mich mein Umfeld in den nächsten vier Schwangerschaften in Ruhe. Erst zu meinem 50. Geburtstag stand der Ernst des Lebens wieder auf der Matte. Angeblich kommen da die ersten körperlichen Beschwerden. Zu meinem 60. Geburtstag wurden diese laut Besserwisser schon größer. Jedoch kann ich mit dem Ernst des Lebens nichts anfangen. 

Ich öffne jeden Morgen mein Fenster, atme tief durch, grüße freundlich mein Spiegelbild und lasse mich vom Tag verzaubern. 

Spieglein, Spieglein an der Wand

„Spieglein, Spieglein an der Wand. Sag mir, wer ist die Schönste im ganzen Land?“ „Na, hallo erst einmal. Natürlich du. In dem kleinen WBS 70-Bad passt ja keine weitere Person rein. Aber, was soll das denn jetzt. Ansonsten begrüßt du mich jeden Morgen lächelnd mit den Worten: Schön, dass du wieder da bist. Ich weiß, du hältst ein Selbstgespräch. Trotzdem finde ich diese Art der Begrüßung schön. Überhaupt habe ich in den reichlich 60 Jahren viel mit dir erlebt. Schönes und weniger Schönes. Als du noch klein warst, bist du immer gehüpft, um einen Blick in mich zu erhaschen. Und du hast dabei gestrahlt, wenn es dir gelungen ist. Später mit ungefähr 14 Jahren ging die Schminkzeit los. Es musste schnell gehen. Denn, wenn die Mutter dich erwischte, musste das Zeug (wie sie es nannte) wieder ab. Hin und wieder hast du mir mit Lippenstift ein Herzchen aufgemalt oder einen Kussmund aufgedrückt. Das gefiel mir. Lächelnd hast du dann sogar die Strafarbeit deiner Mutter in Kauf genommen. Seit 1983 hast du angefangen, Reden vor mir zu halten und dabei deine Mimik auch zu kontrollieren. Die Übungen waren eine schöne Abwechslung für mich. Ansonsten habe ich dich immer nur kurz gesehen. Du warst mehr in den Kinderzimmern. Dann kam die Trennung von deinem Mann. Ich hatte sogar Angst um dich. Eingefallene Wangen und innerhalb von fünf Monaten 16 Kilo abgenommen. Zum Glück kam ja ganz schnell wieder ein Mann an deiner Seite, der dich aufgepäppelt hat. Jetzt gefällst du mir wieder. Auch finde ich es gut, dass du deine Falten Falten sein lässt. 

Also begrüße mich bitte weiterhin jeden Morgen wie gewohnt. Dann bleibe auch ich dir froh gelaunt in den nächsten Jahren. Lass dir das von deinem Spiegel gesagt sein.“

Der Tod gehört zum Leben 

Für Kinder ist die Erfahrung mit dem Tod ein einschneidendes Erlebnis in ihrem bisherigen Leben. 

Anfang der 80er-Jahre ging ich im Sommer mit meiner 3-jährigen Tochter spazieren. Unter einer Hecke entdeckte sie einen toten Vogel. Traurig stand sie da. Ich erklärte ihr, dass alte Tiere halt sterben. „Sonst wäre doch die Welt eines Tages mit Tieren überfüllt.“ sprach ich. Das verstand sie. Hat sie doch schon oft im Großen Garten Entenmütter mit ihren vielen kleinen Küken beobachtet. Am nächsten Tag gingen ihre Gedanken weiter. „Sterben Menschen auch?“ fragte sie. „Ja“ antwortete ich. Schnell holte ich das Fotoalbum aus dem Schrank. Auf einem Foto war meine Tochter im Alter von vier Wochen auf dem Arm ihrer Uromi. Leider ist diese sieben Monate später verstorben. „Sie ist sehr alt geworden und hatte ein glückliches Leben.“ beruhigte ich meine Tochter. Wissentlich verschwieg ich, dass diese Frau leider zwei Weltkriege erleben musste und zum Schluss Krebs hatte. Es gab ja noch zwei lebende Uromas. 

Zwei Tage später waren wir wieder an der frischen Luft. Ihre kleine Schwester schlief friedlich im Kinderwagen. Mit einer 3-Jährigen kommt man nicht so schnell vorwärts. Vor uns lief ein älterer Herr mit seiner Gehhilfe. Auch er war nicht schnell. Plötzlich musste meine Tochter ihre Gedanken loswerden. „Als erstes stirbt die eine Uroma, dann die andere.“ erklärte sie laut. Sie wusste zwar nicht das Alter der einzelnen Familienmitglieder, jedoch die altersgerechte Reihenfolge war ihr bekannt. „Zuerst stirbt die eine Uroma, dann die andere, dann der Opi und dann die Omi. Ach nein. Zuerst stirbt die eine Uroma, dann die andere, dann der Opi, dann die Oma, dann der Opa, dann die Omi, dann der Papa, dann du Mama und dann ich.“ Sie wusste, dass meine Schwiegereltern meine Eltern vom Alter her einrahmten. 

Der ältere Herr vor uns versuchte schneller zu gehen. Es gelang ihm nicht. „Ach nein“ fing meine Tochter erneut an. Ihr fiel inzwischen noch mein Bruder ein. Er musste noch in der Reihenfolge eingebaut werden. Der Herr vor uns hustete gekünstelt. Meine Tochter bemerkte dies nicht. Zu stark war sie mit ihren Gedanken beschäftigt. „Ach nein“ sagte sie laut vernehmlich und fing von vorn an. Da gab es doch noch den Bruder ihres Papas. Und ihre kleine Schwester gehörte ganz an hinterste Stelle. Sie durfte nicht vergessen werden. Der Herr vor uns knurrte. 

Inzwischen fiel meiner Tochter ein, dass sie auch eine Patentante hat. „Mutti, wann stirbt sie?“ fragte sie mich. Es war sinnlos, sie auf andere Gedanken zu bringen. Also erklärte ich ihr, zwischen welchen Familienmitgliedern ihre Patentante einzugliedern ist. „Also zuerst stirbt…“ Weiter kam sie nicht. Wütend drehte sich der Herr vor uns um. Mit hochrotem Kopf fuchtelte er mit seinem Stock in der Luft herum. „Jetzt höre mal mit deiner Sterberei auf.“ schrie er meine Tochter an, „das hält ja kein Mensch aus.“ Völlig verständnislos sah meine Tochter den Herrn an. Was hatte sie nur falsch gemacht? 

Ich machte dem Herrn einen Vorschlag. „Bleiben sie doch mal eine Weile stehen und holen tief Luft. Ich werde sie derweil überholen. Wenn sie sich etwas erholt haben, können sie ihren Weg fortsetzen. Ich bin dann weit genug weg. Für meine Tochter gehört der Tod nun einmal zum Leben und für mich übrigens auch.“ erklärte ich ihm. Gesagt, getan. Und der Tag war für beide Seiten gerettet. 

Leider hielt sich der Tod später nicht an diese vorgesetzte Reihenfolge.

Die Spinne

Von Kindesbeinen an bin ich tierlieb. Mit fünf Jahren habe ich einmal auf einer Kleintiermesse ein schlachtreifes Kaninchen mit einem kleinen Stall dazu gewonnen. Liebevoll pflegte ich es auf dem Balkon. Eines Tages war die Tür der kleinen Box offen und mein Kaninchen weg. „Bestimmt ist es vom Balkon runtergesprungen und davon gehoppelt“, sagten meine Eltern, „Kaninchen überleben den Sprung.“ In Wirklichkeit habe ich es am Sonntag mit verspeist. 

Später, und bis heute, liebte und liebe ich Schlangen und Spinnen. Besonders Vogelspinnen haben es mir angetan. Deren Vielfalt und Beweglichkeit, sowie ihr gesamtes Leben faszinieren mich. 

In meiner Wohnung wird keine Spinne getötet, sondern auf den Balkon entlassen. Eine Zeitspanne lang hat mich jeden Morgen im Bad ein Weberknecht besucht. Ich fand es schön. Eines Tages war er verschwunden. 

Nach der Wende wurden im Gorbitzer Plattenbau vielerorts die Bäder saniert. In den Schächten wurden neue Wasserleitungen nebst Wasseruhren eingebaut. Allerdings eine neue Badewanne oder/und Waschbecken hätte man selber bezahlen müssen. Man konnte sich dann sogar die Farbe aussuchen. Hat aber in unserem Haus kein Mieter gemacht. 

Nachdem die Handwerker abgezogen waren, hörte ich es am nächsten Morgen im Schacht leicht plätschern. Nach einem Anruf kam auch bald ein Handwerker vorbei. Es war ein älterer Herr. Er steckte seinen Kopf in den Schacht und schimpfte laut: „Wer hat diese Spinne in den Schacht gesetzt?“ Das ging mir zu weit. Ich bemühe mich ja um Sauberkeit in meiner Wohnung, aber alles ist nicht machbar. „Vielleicht kümmere ich mich noch um Spinnen im Schacht.“ fauchte ich zornig zurück. Er zog seinen Kopf zurück und schaute mich ganz verdutzt an. Schnell begriff er, dass ich eine ausgesprochene technische Niete bin. Er zeigte mir, dass das Gewirr von Schläuchen, die von der Wasseruhr abgingen, Spinne genannt wurde. Diese war nicht fachgerecht eingesetzt worden. Wieder war ich eine Erfahrung reicher. Außer meinen geliebten Achtbeinern gibt es also auch noch andere Spinnen. 

Das falsche Geburtstagsgeschenk

Im März 1998 wurde mein Sohn elf Jahre alt. Im Vorfeld wollte sein 8-jähriger Bruder ihm eine Freude bereiten und von seinem Taschengeld ein kleines Geschenk besorgen. Ich war sehr gerührt und gab ihm noch ein wenig Geld dazu. Aufgeregt ging er allein in den nahe gelegenen Supermarkt. Er wusste, dass sich sein älterer Bruder auf der einen Seite für Computer interessierte, und für Marzipan hatte er ebenfalls eine Vorliebe. 

Stolz kam er von seinem Einkauf zurück und präsentierte mir seinen Einkauf nebst Kassenbon. Entsetzt starrte ich auf das Geschenk. In einer, mit knisternden Klarsichtpapier versehenen, Verpackung befand sich ein aus Marzipan geformter Minicomputer. Daneben war eine kleine Flasche Pflaumenschnaps (0,1 l). Ich fragte meinen Sohn, ob die Kassiererin nichts gesagt hätte. „Doch“, antwortete mein Sohn, „Sie wollte wissen, für wen ich das kaufe. Ich sagte ihr, dass es ein Geburtstagsgeschenk für meinen älteren Bruder ist.“ Ich war wütend. Sofort nahm ich das Geschenk nebst Kassenbon und meinen Sohn und ging zum Supermarkt. Dort verlangte ich nach dem Leiter. Es war ihm sichtbar peinlich. Er konnte es auch nicht verstehen. Ein Lehrling hatte nicht aufgepasst. Wir bekamen das Geld zurück und mein Sohn noch eine kleine Tüte Gummibärchen als Entschuldigung obenauf. Nun kauften wir ein angemessenes Geschenk. 

Ich denke, hinter geschlossenen Türen wird die Geschichte für den Lehrling noch ein Nachspiel gehabt haben. 

Der Zoo im Auto

Vor allem Männer lieben ihre Autos. Sie werden ausgiebig und intensiv gehegt und gepflegt. Oft sogar mehr als die eigene Frau oder Freundin. Hinter ihrem Lenkrad fühlen sie sich pudelwohl. Sie kennen die Verkehrsregeln und verhalten sich auch meistens rücksichtsvoll. Nur wehe, vor ihnen springt die Ampel plötzlich von gelb auf rot. „Welches Rhinozeros hat diese Ampel programmiert! Diesem Rindvieh will ich mal die Leviten lesen.“ Solche oder ähnliche Äußerungen lassen da nicht lange auf sich warten. Selbst, wenn Kinder im Auto sitzen. Bei guter Laune halten sie auch den Sicherheitsabstand zum Vordermann ein. Vorbildlich. Nur sind nicht alle so. Oft springt ein anderer in diese Lücke. „Du Lackaffe, du Hornochse, Kamel! Mit dir werde ich noch Schlitten fahren.“ Das Schimpfen nimmt dann manchmal kein Ende. Ausgerechnet diese Männer springen ebenfalls mit ihrem Auto in den Sicherheitsabstand eines anderen Autofahrers hinein. Freudestrahlend und mit einem Seitenblick wird die Beifahrerin gefragt: „Na, wie habe ich das gemacht?“ „So, dass hinter uns jetzt der Zoo offen ist“, lautet die Antwort.

Lügen haben kurze Beine

17 Jahre später war mein jüngster Sohn acht Jahre alt. Er bestand darauf, seine tägliche Körperpflege ohne mütterliche oder väterliche Aufsicht zu erledigen. Abgemacht. Im Hintergrund passte ich schon auf, dass er nicht nur das Seifentuch oder die Zahnbürste anfeuchtete. Eines Tages kam er mit Hautausschlag zu mir. Mein Gehirn fing an zu „rattern“. Hatte ich Südfrüchte gekauft, die vielleicht gespritzt waren? Welche Kinderkrankheit hatte er noch nicht? Beobachten war meine Devise. 

Zwei Tage später fragte mich sein Papa, ob ich sein Duschgel benutze. „Es ist auf einmal so schnell alle.“ „Du weißt genau, dass ich diese Produkte überhaupt nicht vertrage.“ entgegnete ich. Gleichzeitig kam mir ein Blitzgedanke. Ich fragte meinen Sohn. „Sag mal, benutzt du Papas Duschgel?“ Mit erhobenem Haupt und fester Stimme meinte er: „Das würde ich mir nie wagen.“ „Weißt du, ich vertrage nämlich dieses Duschgel nicht. Ich bekomme dann juckenden Hautausschlag. War ja nur so ein Gedanke von mir. Aber da ist ja alles gut. Du kannst wieder in dein Zimmer gehen.“ sprach ich. Mit zusammengekniffenen Lippen verschwand er. Zwei Minuten später war er wieder da. Leise und mit gesenktem Kopf verkündete er: „Ich war es.“ Der Hintergrund war schnell geklärt. Er wollte kein Kinderduschgel oder -bad mehr verwenden. Wir einigten uns, dass er die fast leere Flasche völlig entleerte. Noch in derselben Woche gingen wir gemeinsam einkaufen. Er suchte sich ein Gel raus, was seiner Meinung nach von der Aufmachung cool aussah und männlich roch. Ich studierte die Inhaltsstoffe. So konnten wir uns schnell einigen, der Ausschlag verschwand und das Problem war aus der Welt geschafft.

Spiegelung des Verhaltens oder Wie erziehe ich einen Mann

Manchmal – aber nur manchmal – hat man den Eindruck, dass einige Männer in der Steinzeit stehen geblieben sind. Je älter sie werden, desto größer wird das Verlangen ihren Marktwert vorrangig bei jüngeren Frauen zu testen. Auch ich habe so ein Exemplar erwischt. Selbst in meiner Gegenwart schaute er unverhohlen auf offener Straße jüngeren Damen hinterher. Als er wieder einmal eingehend den Hintern einer vor uns laufenden Frau studierte, fragte ich ihn von der Seite: „Na, ist dieses Gesäß genehm?“ „Geht so“, knurrte er nur.  ‘Na warte mein Liebling,’ dachte ich. 

‘Du bekommst deine Lektion!’ Ich wusste auch schon wie. Mein Vergnügen wollte ich ja auch haben. Dazu nutzte ich eine Eigenschaft vieler Männer. Sie haben ein schlechtes Personengedächtnis. War ich mit meinem Freund unterwegs und es kam uns ein gutaussehender Mann, in meinem Alter entgegen, grüßte ich ihn. Welch eine Freude! Ich konnte förmlich die Gedanken hinter der Stirn lesen. ‘Kenne ich diese Frau? Ist es vielleicht eine Freundin meiner Frau. Ich will keinen Ärger.’ So oder ähnlich haben bestimmt alle gedacht. Freundlich und höflich grüßte jeder zurück. Irgendwann fragte mich mein Freund: „Sag mal, woher kennst du die Männer?“ „Gar nicht“, war meine Antwort. „Aber sympathisch sehen sie doch aus, oder?“ Er begriff sofort. Ab diesem Zeitpunkt schaute er anderen Frauen nicht mehr hinterher. Zumindest nicht in meiner Gegenwart. Und das genügt mir.

Der Punkt

Wieder einmal war es soweit. Omas Hausmittel halfen nicht mehr. Auch das Internet brachte keine neuen Erkenntnisse. Das Braun am unteren Teil des Duschvorhanges blieb hartnäckig. Ein neuer musste her. Durch Zufall hatte der Supermarkt am gleichen Tag meiner Feststellung welche im Angebot. Auf dem ersten wieherte mich ein Zebra an. Nein, danke! Ich weiß selber, dass ich keine 16, sondern 61 Jahre alt bin. Der zweite zeigte mir die Länder der Erde auf. Wenn ich beim Duschen den Vorhang intensiv betrachte und das Wasser laufen lasse, wird es teuer. Doch der dritte gefällt mir. In abstrakter Darstellung schweben angedeutete Pusteblumen gen Himmel. Das Ganze ist in blau und grün gehalten. Am unteren Ende dunkelgrün. Prima. Zu Hause hänge ich ihn schnell auf, ehe die Familie kommt. Aber, was ist das?! Auf halber Höhe befindet sich ein brauner Punkt von etwa 5 mm Durchmesser. Kein Loch, kein Riss, nur ein brauner Punkt. Gut, bei Batikarbeiten ist im Vorfeld auch nicht das Ergebnis vorherzusagen. Es ist halt mein Duschvorhang. 

Wie üblich, verschwindet mein Sohn nach seinem Erscheinen sofort im Bad. Gleich danach erklärt er mir: „Den Duschvorhang musst du reklamieren.“ „Nein“, sagte ich. Er winkte ab und ging mit den Worten: „Mit dir darüber zu reden, ist sinnlos.“ in sein Zimmer. Abends geht mein Freund nach getaner Arbeit duschen. Plötzlich fliegt die Badtür auf. So, wie Gott ihn schuf, stand er halb drinnen, halb draußen. „Hast du den Punkt schon gesehen?“, fragte er mich. Verschmitzt lächelte ich. „Von welchem Punkt sprichst du?“ Er verdrehte die Augen und verschwand wieder im Bad. 

Am Wochenende kam Besuch. Es dauerte nicht lange und mein Duschvorhang eröffnete eine heftige Debatte. Wann sollte man was reklamieren? Wann verlohnt es sich? Sollte man Kleinigkeiten hinnehmen, vielleicht sogar selbst reparieren, wenn man dazu in der Lage ist? Bei der heutigen Massenproduktion wird so viel Ausschuss produziert. Die Müllberge werden immer höher. Sollte man tiefer in die Tasche greifen und auf solide Handwerkskunst setzen? Aber auch da hat man keine 100 % Garantie. 

Am Abend verabschiedeten sich alle mit den Worten: „Es war ein interessanter Tag mit vielen Anregungen.“ 

Ein paar Tage später fand unser Mädelsabend bei mir statt. Fünf ehemalige Freundinnen haben sich stets viel zu erzählen. Als die Erste aus dem Bad kam, kommentierte sie: „Toll, dein neuer Duschvorhang. Aber, er hat einen Punkt.“ Sofort sprangen die anderen Drei auf und rannten ins Bad. Wieder da, meinte unser Temperamentbündel: „Das ist wieder typisch für dich. Unsereins würde sich ärgern und aufregen. Aber du nimmst es gelassen.“ Die Nächste sann so vor sich hin: „Eigentlich haben wir doch im Laufe unseres Lebens gelernt, bei unseren Männern über Dinge hinweg zu sehen, die wir sowieso nicht mehr ändern können. Da ist so ein Punkt eine Lappalie.“ 

Und ich saß still in meiner Sofaecke und freute mich schon auf meinen nächsten Besuch.

Die Kuckucksuhr

Zum Anlass der Goldenen Hochzeit gibt es genug Witze. Einer ist mir besonders im Gedächtnis geblieben: Ein frisch vermähltes, junges Ehepaar fährt in die Flitterwochen. Der Ehemann interessiert sich in seiner Freizeit für Vogelstimmen. In einem Schaufenster sehen sie eine Kuckucksuhr. Verliebt schaut sie hin und denkt an ihn. Da hätte er den Kuckucksruf sogar zu Hause. Er schaut sie von der Seite an. Die Uhr findet er hässlich, kauft sie aber ihr zuliebe. Nach 50 Jahren ist diese defekt. Er versucht sie zu reparieren, was ihm nicht so gelingt. Er flucht: „Diese hässliche Uhr!“ Sofort erwidert sie: „Wegen dir haben wir sie doch gekauft.“  Er: „Was, nein!“ 

Als ich meinen Freund kennenlernte, lernte ich auch seinen Kumpel kennen. Bei ihm zeigte er mir den großen Fächer an der Wand über dem Sofa. Ihm gefiel er. Ich kaufte einen ähnlichen, nur nicht in schwarz und lila gehalten, sondern farbenfreudig. Das war ihm zu viel Farbe. Also legte ich den Fächer auf den Schrank. Monate später hatte ich einen wichtigen Termin. Als ich nach Hause kam, hing über dem Sofa der Fächer an der Wand. Mein erster Gedanke war sofort: Das ist unsere Kuckucksuhr! Inzwischen haben wir unsere Stube anders gestaltet und der Fächer liegt wieder auf dem Schrank. Entsorgen werde ich ihn nicht. Beim Frühjahrs- oder Herbstputz entstaube ich ihn und denke an die Kuckucksuhr. Immerhin sind wir nun fast 25 Jahre zusammen. Weitere kommen hoffentlich hinzu. Bis heute weiß er nichts von meinen Gedanken. Irgendwann werde ich ihm die Geschichte mal erzählen.

Die goldenen Zwanziger

Wir schreiben das Jahr 2020. Oft wird dieser Beginn eines neuen Jahrzehnts mit den zwanziger Jahren vor 100 Jahren verglichen. Jeder weiß über den damaligen Wirtschaftsaufschwung Bescheid. Das Tanzbein wurde reichlich geschwungen und ausgiebig gefeiert. 

Mein Opa ist 1899 auf die Welt gekommen und meine Omi 1903. Beim Tanzen lernten sie sich 1923 kennen. Natürlich unter Aufsicht ihrer Eltern, meiner Urgroßeltern. Diese gehörten der Mittelschicht an. Gegen eine Heirat hatte keiner etwas einzuwenden. Der Termin wurde festgelegt und alles vorbereitet. Anfang September 1924 war es dann soweit. Am Abend vorher fand, wie damals üblich, der Polterabend statt. Um Mitternacht kehrte das Brautpaar die Scherben zusammen. Die Braut ging danach schlafen, während der Bräutigam noch intensiv mit Freunden feierte. 

Am nächsten Morgen wartete die Braut festlich geschmückt mit den Gästen vor der Kirche. Die Glocken läuteten schon. Wer noch fehlte, war der Bräutigam. Freunde wurden ausgesandt, um ihn zu holen. Niedergeschlagen kamen sie zurück. Trotz intensiver Bemühungen gelang es ihnen nicht, den Bräutigam zu wecken. Er schlief seinen Rausch aus. Wütend raffte die Braut ihre Röcke. Und mit den Worten: „Nun erst recht, jetzt muss er ran.“, verschwand sie. 

Vier Wochen später gelang die Hochzeit und immerhin waren meine Großeltern fast 50 Jahre glücklich und zufrieden verheiratet. 

Ich hätte genauso, wie meine Omi, gehandelt. Die Gene leben weiter. Auch, wenn ich nun schon 62 Jahre alt bin, mal sehen, was die zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts für mich bereithalten.

Die Henne und das Ei

Nein, es geht hier nicht darum, wer zuerst da war. Die Frage bleibt ewig umstritten. Auch die Tatsache, dass manche Hühner braune und andere weiße Eier legen, spielt hier keine Rolle. Vielmehr geht es darum, wie legt die Henne das Ei. 

Zum Wochenende gibt es bei mir für jeden zum Frühstück ein Ei. Jeder hat seinen Eierbecher. Die Eier koche ich im Eierkocher in der Küche. Anschließend stelle ich sie in die Eierbecher. Selbstverständlich so herum, wie sie im Eierkocher waren. Die spitze Seite gehört bei mir nach oben. Nach meinem Verständnis legt die Henne ihr Ei mit der runden Seite zuerst ins Nest. Mein Freund dreht sein Ei stets um. Er behauptet, die Henne legt ihr Ei genau andersherum. Und so möchte er auch das Ei im Eierbecher. Er freut sich immer auf Ostern. Die bunt gefärbten Eier stehen in einem Extra-Körbchen auf dem Tisch. Jeder darf sich eins aussuchen. 

Ich sprach mit meinem Sohn über dieses Thema. Er fand diese Frage albern. „Kindlich“ war sein Kommentar. „Ach“, konterte ich. „Die Frage deinerseits, ob ich das Klopapier zerknülle oder falte, ist wohl hoch wissenschaftlich?“ Damals kam ich ihn mit der Gegenfrage: „Vorher oder nachher?“ Er gab sich geschlagen. 

Schließlich schickte er mir zwei kleine YouTube-Clips. Im ersten legte das Huhn deutlich sichtbar die runde Seite zuerst. Wie freute ich mich schon. Doch im zweiten YouTube-Clip hatte das Huhn es sich genau andersherum überlegt. Also bleibt diese Frage ungeklärt. Auch Loriot hat dieses Problem nicht erörtert. 

Aber letztendlich ist es egal, wie herum das Ei im Eierbecher steht oder die Henne es legt. Hauptsache es schmeckt.

Anordnung zur Corona – Schutzimpfung

Besonders für ältere Menschen war der Ausbruch der Corona-Pandemie im März 2020 schwer verständlich. Wie sollten sie das auch verstehen. So etwas hatte bisher noch keiner erlebt. 

Besonders in den Alten- und Pflegeheimen gab es schwere Verläufe dieser Krankheit bis hin zum Tod. Alle mussten isoliert werden und vereinsamten. Gegen Ende des Jahres kam endlich Impfstoff auf den Markt. 

Mein 87-jähriger Vater verglich am Anfang die Krankheit mit einer starken Grippe. Er erzählte stets allen, dass er als Kind ein paar Wochen mit einer heftigen Grippe im Bett lag. Nach seiner Genesung erklärte der Kinderarzt, dass er nun ein Leben lang immun sei. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass es dieses Mal anders ist. Aber gegen eine Impfung war er weiterhin. Eines Tages meinte er plötzlich: „Wenn ich zur Impfung aufgefordert werde, komme ich dem nach. Man muss ja schließlich seiner Bürgerpflicht nachkommen.“ Das war der Durchbruch! Mein 31-jähriger Sohn hatte eine Idee. Er organisierte im Internet einen Impftermin für seinen Opa. Leider war nur in Pirna etwas frei. Abends kam er zu mir und druckte alles in Farbe aus. Anschließend steckte er die Aufforderung in einen DIN A4 Umschlag. „Deine Handschrift kennt er.“ meinte er. Er schrieb mit Druckbuchstaben das DRK als Absender darauf. Außerdem ordnungsgemäß die Anschrift meines 

Vaters. Ich wand ein, dass sein Opa die fehlende, abgestempelte Briefmarke bemerken wird. „Das merkt er nicht“ erwiderte er. „Ich stecke den Umschlag noch heute Abend in seinen Briefkasten.“ Am nächsten Morgen rief mich mein Vater an. „Ich habe Post bekommen. Im Februar soll ich zum Impfen nach Pirna. Wie komme ich dorthin?“ „Keine Angst“ sagte ich. „Ich rufe deinen Enkel an, er hat ja ein Auto.“ Mein Sohn rief abends seinen Opa an. „Ich habe gehört, du hast eine Aufforderung zum Impfen bekommen. Ich organisiere den Transport.“ Mein Vater bekam seine zwei Impfungen. Noch heute wundert er sich nur, dass er nicht in Dresden, sondern in Pirna geimpft wurde.

Gedanken zum 40. Jahrestag der Grundsteinlegung für das Neubaugebiet Dresden – Gorbitz

Am 21. August 1981 war es endlich soweit. Die Medien feierten das Ereignis gebührlich. Und auch die Dresdner waren hocherfreut. War doch die Wohnungsnot in der DDR allgemein bekannt. Das kurz zuvor entstandene Neubaugebiet im Stadtteil Prohlis reichte nicht aus. Ein noch größeres sollte entstehen. 

Auch wir, mein Mann und ich, waren auf Wohnungssuche. Durch die Geburt unserer Tochter 1980 ist unsere Familie gewachsen. 

Nur, wie sah es damals in der DDR aus? Die wenigen Wohnungen, die zur Verfügung standen, wurden zentral oder durch die betrieblichen Wohnungskommissionen vergeben. 

Dies lief über ein kompliziertes Dringlichkeitsverfahren. Als Ledige hatte man da kaum Chancen. Trotzdem stellte fast jeder mit 18 Jahren einen Wohnungsantrag, denn die Wartejahre spielten auch eine Rolle. Auch ich ging genau an meinem 18. Geburtstag in meinem Ausbildungsbetrieb zur Wohnungskommission und stellte einen Antrag auf eigenen Wohnraum. 

Als ich im Juni 1975 meinen späteren Mann kennenlernte, wohnte er noch bei seinen Eltern und ich bei meinen. Beide hatten wir noch einen jüngeren Bruder, mit dem wir uns ein Zimmer teilen mussten. Der Wohnungsantrag meines damaligen Freundes lief bereits zwei Jahre. Er war halt zwei Jahre älter. Im März 1976 hatte er das Glück, dass er in Freital – Deuben in einem Privathaus eine kleine 2-Raum-Dachgeschosswohnung ohne Bad und mit Plumpsklo außerhalb der Wohnung beziehen konnte. Da das Dach kaputt war, war die Wohnung nass. Das Schlafzimmer war bereits baupolizeilich gesperrt. Eine Außenwand war bereits schwarz vor Schimmel. Im Erdgeschoss des Hauses wohnte seine Oma. Leider verstarb sie im September des gleichen Jahres. 

Mein Freund wollte nicht, dass ich zu ihm ziehe. Er war Student, wollte seine Ruhe für das Studium, wie er betonte. Also blieb ich bei meinen Eltern wohnen. Erst nach der Hochzeit im August 1979 zog ich zu meinem Mann. Der Privatbesitzer hatte ein Jahr zuvor das 6-Familienhaus an die KWV (kommunale Wohnungsverwaltung) verschenkt. 

Der Zustand des Daches wurde immer schlimmer und dadurch die Wohnung immer feuchter. 

Unsere Tochter kam mit sechs Monaten in die Kinderkrippe. Bedingt durch den schlechten Zustand der Wohnung wurde sie oft krank. Manchmal sogar zweimal monatlich. Der Betrieb legte mir nahe, sie krippenunfähig schreiben zu lassen. Zum Glück war die Kinderärztin dagegen und empfahl in einem Schreiben an den Betrieb, uns eine trockene Wohnung zu versorgen. Auch die Jugendfürsorge (heute Jugendamt) reagierte ähnlich. Nichts half. Im September 1981 gingen wir absichtlich nicht zur Kommunalwahl. Wir warteten, bis es an unserer Wohnungstür klingelte. Man versprach uns zu helfen und wir steckten den Zettel in die Wahlurne. Nur tat sich danach wieder nichts. Also musste aus unserer Sicht die Dringlichkeit durch eine weitere Schwangerschaft erhöht werden. Das half. Im Juni 1982 erhielten wir die Zuweisung für eine 4-Raum-Wohnung ohne Balkon im neu entstehenden Neubaugebiet Gorbitz. Die Freude war groß.   

Die AWG – Anteile (Arbeiter-Wohnungs-Genossenschaft) von 2400 Mark waren bereits bezahlt. Die geforderten Arbeitsleistungen von 850 Stunden hatten wir mit 375 Stunden teilweise geleistet. 

Mein damaliger Mann arbeitete im VTKD (Verkehrs- und Tiefbaukombinat Dresden). Der Betrieb war beim Aufbau von Gorbitz mit beteiligt. Dadurch hatten wir die Möglichkeit, die restlichen 475 Stunden in Wohnnähe abzuleisten. Wir kümmerten uns mit um den Anstrich der neuen Brückengeländer über den Gorbitzbach. Dabei konnten wir auch gleich die geforderten VMI – Stunden (Volkswirtschaftliche Masseninitiative) in Höhe von zehn Stunden pro Jahr mit absolvieren. 

Außerdem mussten wir noch 40 Mark für die Wannenverkleidung und 116 Mark für ein 2. Waschbecken in der Diele bezahlen. Dieses war in größeren Wohnungen gleich eingebaut. 

Endlich hatten wir eine trockene Wohnung mit Bad nebst Wanne und fließend warmes Wasser aus der Wand. Wir waren überglücklich. Der fehlende Balkon störte uns gar nicht. Als wir das erste Mal unser großes Wohnzimmer betraten, fanden wir in der Mitte des Zimmers, schön zusammengefaltet, die DDR-Fahne vor. Sie sollte an den Feiertagen, wie 1. Mai und 7. Oktober (Gründung der DDR), straßenseitig aufgehangen werden. Keiner im Haus kam dieser Aufforderung nach. Als wir im Januar 1990 aus der Wohnung auszogen, legten wir diese wieder dorthin, wo wir sie vorgefunden hatten. 

Wie alle nahmen wir am Anfang den Dreck und Staub auf der Straße und im Hof in Kauf. Es gab weder Bäume noch Wiese. Nur Bauschutt, Kies und Sand. Die Anschaffung von Gummistiefeln war für jeden oberstes Gebot. 

Im September 1982 erlebte ich in Gorbitz einen Sandsturm. Zum späten Nachmittag bahnte sich ein Sommergewitter an. Dunkle Wolken erschienen am Himmel. Wie so oft kündigte vorher ein heftiger Sturm das folgende Gewitter an. Da Bäume und Wiese noch fehlten, hatte der Wind breite Angriffsfläche. Ich wohnte in der Braunsdorfer Straße in der vorletzten Etage. Zum Glück schloss ich rasch die Fenster. Nur wenig später konnte ich das Haus vom Asternweg gegenüber nicht mehr erkennen. So sehr wirbelte der Sturm Bauschutt, Kies und Sand in die Höhe. „Ich muss nicht in die Wüste reisen, um einen Sandsturm zu erleben. Das habe ich in Gorbitz auch.“ war mein Kommentar dazu.        

Heilig Abend 1982 wurde unsere 2. Tochter geboren. Alles war perfekt. 

Im Frühjahr 1983 wurde endlich Mutterboden angefahren, Gras gesät und Bäume gepflanzt. Jetzt im Jahr 2021 sind die Bäume schön groß und dienen als Schattenspender und für Vögel als Nistplatz. Die Kinder haben viel Raum zum Spielen und Erwachsenen können auf dem Rasen ein Sonnenbad nehmen und abends grillen. 

Im Winter dienen die ehemaligen, inzwischen begrünten und bepflanzten Schuttberge in den Innenhöfen den Kindern als Rodelberge. 

Meine sechs Kinder sind in Gorbitz in die Schule gegangen und groß geworden. Für mich persönlich ist es das größte Glück, dass ich in Gorbitz die Liebe meines Lebens gefunden habe. Ich bin so froh und dankbar darüber. 

Gorbitz ist ein attraktiver Stadtteil geworden. Die Wohnungen wurden nach der Wende nach und nach saniert. Kulturell gibt es für alle Altersklassen vielseitige Angebote. Sogar Sportplätze für Senioren wurden errichtet. Viele Organisationen, Vereine und Initiativen sind in Gorbitz sesshaft geworden. Wer will, kann jederzeit aktiv an der Gestaltung seines Wohngebietes mitwirken. Die Möglichkeiten sind vielfältig. Ich fühle mich hier wohl und möchte das Wohngebiet nicht mehr verlassen. 


Persönliche Erinnerungen an DDR-Leben und Geschichten mit DDR-Bezug

Unsere Erinnerungs-Bibliothek darf weiterwachsen. Habt Ihr ebenfalls Erinnerungen an das Leben in der DDR oder Geschichten mit DDR-Bezug, die Ihr hier veröffentlichen möchtet? Gerne könnt Ihr uns diese per E-Mail (info@kulturaktiv.org) oder per Post (Kultur Aktiv e.V., Bautzner Straße 49, 01099 Dresden) zuschicken.



Das Projekt Treffpunkt ostZONE. Erinnern und gestalten wird gefördert durch das House of Resources Dresden +. Diese Maßnahme wird mitfinanziert mit Steuermitteln auf Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes im Rahmen des Landesprogrammes Integrative Maßnahmen.