
Bei Treffpunkt ostZONE. Erinnern und gestalten wurde jede Biografie wertgeschรคtzt – generationsรผbergreifend und interkulturell. Einige Teilnehmende schrieben ihre Geschichten und Erinnerungen zum Leben in der DDR nieder oder erweiterten ihre persรถnlichen Sammlungen, die schon weit vor dem Projekt entstanden sind. Der Fokus lag auf kurzen Geschichten zum Leben und Alltag in der DDR.
Barbara รผbergab uns ihre Aufzeichnungen und stimmte der Verรถffentlichung zu.
Geschichten und Erinnerungen von Barbara
Plattenbaugebiet als Zentrum | Regen รผberall | Schreck in der Morgenstunde | Ausflug im Trabi | Futterneid | Nachlรคssigkeit
Eistrรคume aus Kindertagen | Dornen und Stacheln | Schlรผpfrigkeiten | Einkaufen macht Spaร | Falsche Interpretation
Mein Wagen | Experiment mit Radieschen | Nacktblende | Sauer macht nicht immer lustig | Der Affenbrotbaum
Volksrรถntgenaktion in der DDR | Spickzettel | Pionierveranstaltung mit Folgen | Naivitรคt | Wo steht mein Bett? | Ehekredit
Der Freitaler Wasserfall | Alles Banane | Die Tรคuschung | Graue Gardinen | Der kleine Unterschied | Freesien im Oktober
Das pupsende Kleinkind | Pรคdagogik, die nicht griff | Ernst muss weg | Spieglein, Spieglein an der Wand
Der Tod gehรถrt zum Leben | Die Spinne | Das falsche Geburtstagsgeschenk | Der Zoo im Auto | Lรผgen haben kurze Beine
Spiegelung des Verhaltens oder Wie erziehe ich einen Mann | Der Punkt | Die Kuckucksuhr | Die goldenen Zwanziger
Die Henne und das Ei | Anordnung zur Corona – Schutzimpfung | Gedanken zum 40. Jahrestag der Grundsteinlegung fรผr das Neubaugebiet Dresdenย –ย Gorbitz
Plattenbaugebiet als Zentrum
Genau wie mit meinen ersten vier Kindern, รผbte ich auch mit meinen letzten zwei Sรถhnen im Grundschulalter fleiรig. Besonders vor Klassenarbeiten gingen wir den Lehrstoff nochmals durch. In der 3. Klasse ging es im Fach Sachkunde in einer Arbeit um Geographie. Der รlteste von beiden bereitete sich intensiv darauf vor. Trotzdem passierte es. Eine Aufgabe bestand darin, fรผnf Lรคnder Europas zu benennen. Da sein Vater ein ehemaliger DDR – Vertragsarbeiter aus Vietnam ist, holte er dieses Land gleich einmal nach Europa. Ist das nun gelungene Integration?
Sein jรผngerer Bruder musste vier Jahre spรคter auch diese Arbeit schreiben. Erneut รผbte ich auch mit ihm. Die Lรคnder Europas kannte er. Nur fiel ihm unter dem Druck der Arbeit die Hauptstadt von Deutschland nicht ein. Ganz unkompliziert machte er Dresdens grรถรtes Plattenbaugebiet Gorbitz zur Hauptstadt. Mit rotem Stift schrieb die Lehrerin ganz groร โKlasseโ dahinter. Versehen mit drei Ausrufezeichen. Auch ich habe eigentlich nichts gegen diese Idee einzuwenden. Ist doch der Draht nach โobenโ dann recht kurz fรผr mich.
Regen รผberall
Unbezahlbar, wer Geschwister hat. Mit Bruder oder Schwester entwickelt sich zum Glรผck oft eine lebenslange Freundschaft, die sich durch nichts ersetzen lรคsst. Zwar streiten sich Geschwister auch hin und wieder โ hรคufig im Kindesalter โ jedoch der Zusammenhalt ist stรคrker. Besonders, wenn es gegen die Eltern geht.
Im November 1960 bekam ich zu meinem 3. Geburtstag neben einem Puppenwagen einen kleinen Regenschirm. Ich liebte ihn sehr. Auch Jahre spรคter noch. Im Frรผhjahr 1964 gab es mal wieder einen Regentag. Es regnete in Strรถmen und wollte nicht aufhรถren. Fasziniert standen mein 3-jรคhriger Bruder und ich an der Balkontรผr und schauten und hรถrten dem Szenarium zu. Meine Mutter musste dringend einkaufen. Die Geschรคfte waren gleich gegenรผber. Sie entschloss sich, uns zu Hause zu lassen. Kein Betteln half.
Damals hatten wir noch kein Kinderzimmer. In der Stube nahm ich meinen Kinderstuhl aus der Spielecke und stellte ihn vor die Balkontรผr. Ein Stuhl vom Esstisch war schnell dahinter gerรผckt. Zuerst setzte ich meinen Bruder auf den Kinderstuhl und drรผckte ihm den aufgespannten Regenschirm in die Hand. Er besaร eine kleine Gieรkanne mit Tรผlle. Ich stellte mich auf den groรen Stuhl dahinter und lieร es regnen. Es hรถrte sich an, wie drauรen. Dann wechselten wir.
In der Stube war zu DDR-Zeiten Spannteppich ausgelegt. Das war Filz als Untermaterial und darรผber Linoleum. Dieses wurde dann am Rand gespannt und mit Leisten festgenagelt. Als meine Mutter wieder nach Hause kam, schwamm bereits die Stube. Sie hatte Mรผhe, alles schnell wieder aufzuwischen. Denn wรคre das Wasser an einer Stelle unter das Linoleum gekommen, hรคtte der Belag ausgetauscht werden mรผssen. Meine Mutter lieร uns nie wieder allein.
Schreck in der Morgenstunde
Auf einer Messe gewann ich als kleines Kind per Los ein Kaninchen. Ich wusste nicht, dass es sich um ein schlachtreifes handelte. In einem kleinen Verschlag kam es bei meinen Eltern auf den Balkon. Als Erstes sah ich jeden Morgen nach meinem Murkel. Erst danach frรผhstรผckte ich. Wir zwei waren ein Herz und eine Seele. Nur welch ein Schreck! Eines Morgens war die Tรผr des Verschlages offen. Nirgends konnte ich meinen Murkel auf dem Balkon finden. โEs ist bestimmt vom Balkon gesprungenโ, sagte meine Mutter. Entsetzt schaute ich nach unten. Nur, auch dort lag kein Kaninchen. โIhr sagt doch immer, dass wir auf dem Balkon vorsichtig sein mรผssen. Wenn wir runterfallen, sind wir tot. Unten liegt unser Kaninchen nichtโ, erwiderte ich. โKaninchen sind klein und leicht. Sie รผberleben das. Es ist bestimmt davon gehoppeltโ, trรถstete mich meine Mutter. Ein wenig war ich beruhigt, aber immer noch traurig. Dass ich am nรคchsten Tag zu Mittag meinen Murkel gegessen habe, verschwiegen mir meine Eltern.
Ausflug im Trabi
Wir schreiben das Jahr 1986. Mein Bruder war damals 25 Jahre alt. Mit seiner Frau hatte er bereits zwei Kinder. Der รlteste war acht Jahre und die Jรผngste vier Jahre alt. Leider besaร die junge Familie noch kein Auto. Meine Familie bestand ebenfalls aus vier Personen. Unsere Tรถchter waren sechs und drei Jahre alt. Und wir hatten einen Trabi.
In den Herbstferien beschlossen wir einen Ausflug in die Sรคchsische Schweiz. Natรผrlich mit acht Personen. Im Felsenlabyrinth konnten sich die Kinder mal so richtig austoben. Die Sonne schien, keine Wolke war am Himmel zu sehen. Wir hatten unseren Spaร und waren glรผcklich und zufrieden.
Als wir zurรผck auf den Parkplatz kamen, stand neben unserem Trabi ein Mercedes aus Westdeutschland. Ein รคlteres Ehepaar war gerade ausgestiegen. Wir beachteten sie nicht weiter. Sie aber uns. Wir รถffneten die Tรผren. Zuerst stieg unsere รคlteste Tochter ein, dann der Sohn meines Bruders. Sie setzten sich hinten in die Mitte. Dann setzte sich meine Schwรคgerin auf die eine Seite daneben und ich auf die andere. Anschlieรend nahmen wir die 2 jรผngsten Mรคdchen auf den Schoss. Mein Bruder nahm auf dem Beifahrersitz Platz und mein Mann auf dem Fahrersitz. Das รคltere Ehepaar stand mit offenen Mรผndern an seinem Auto. Als mein Mann aus der Parklรผcke rausfuhr, sagte mein Bruder zu ihm: โStopp mal.โ Er drehte die Scheibe runter und wandte sich an das Ehepaar. โDamit sie Bescheid wissen, meine Schwester, die hinter mir sitzt, ist schwanger.โ Er kurbelte das Fenster wieder hoch und meinte zu meinem Mann: โSo, nun kannst du weiterfahren.โ Noch an der Ausfahrt vom Parkplatz konnten wir sehen, dass sich das Ehepaar keinen Schritt bewegt hat. Sie schauten uns noch immer nach. So etwas hatten sie bestimmt noch nicht erlebt.
Futterneid
Bei manchen Menschen sind die Augen grรถรer als der Mund. Andere wiederum kรถnnen gar nicht genug bekommen. Es ist manchmal erstaunlich, wie viel so ein Magen aufnehmen kann.
Auch einige Kinder futtern so viel, wie der Teller hergibt und noch mehr.
Einer meiner Jungen war so. Mit 18 Monaten kam er in die Kinderkrippe. Schnell merkte er, wo das Essen herkam. Oft entwich er den Erzieherinnen, die ihn dann suchten. Ein Lรคcheln konnten sie sich nicht verkneifen. Stets saร er seelenruhig vor dem Essenslift und harrte der Dinge, die da kommen. Es kam nur nichts. Selbst, wenn ich ihn abholte und die Kinder bei Sonnenschein im Garten spielten, sagte die Erzieherin zu mir: โEr sitzt wieder vor dem Essenslift.โ
Im Kindergarten konnte er auch nicht genug bekommen. Es war die Zeit nach der Wende, als die Kรผchen in den Einrichtungen abgebaut und das Essen angeliefert wurde. Die Kindergรคrtnerin erklรคrte es den Kindern und meinte: โIhr dรผrft mal probieren und sagen, wie es euch schmeckt.โ Mein Sohn lieร sich als Erster geben. Er aร schnell auf und stellte sich wieder an. โDanke, es hat gut geschmeckt.โ, meinte er und hielt seinen leeren Teller wieder hin. Er war der Annahme, dass nach der Kostprobe das richtige Essen kommt. Vรถllig enttรคuscht musste er begreifen, dass das bereits sein Essen war. Nach dem Essen holte ich ihn ab. Seine รคlteren Geschwister aรen nach Schulschluss zu Hause. Oft wollte er auch mitessen.
Da er meistens nach dem Mittag bereits Kuchen wollte, musste ich zu einer Maรnahme greifen. Vor 15 Uhr gab es keinen Kuchen. Er schaute immer auf die Uhr.
In der 9. Klasse stand ein Praktikum an. Er kam spรคt nach Hause. Trotzdem erklรคrte er mir, dass er dann noch Mittagessen haben mรถchte. ‚Na warte, mein Junge. Jetzt kriege ich dich.‚ , dachte ich. Als er kam, stellte ich ihm sein Mittagessen hin. Dazu ein Stรผck Obst, wie รผblich. Auf dem nรคchsten Teller lagen zwei Stรผck Kuchen. Dahinter ein Teller mit zwei belegten Schnitten, denn es war bereits 18 Uhr. Dazu das Obst fรผr das Abendessen. Mal sehen, wenn er streikt. Zu meinem Erstaunen aร er alles hintereinander auf, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich konnte nur meinen Kopf schรผtteln.
Jetzt, mit 31 Jahren, hat er sein Essverhalten geรคndert, nachdem er merkte, dass รผber 90 kg Kรถrpergewicht doch nicht ideal sind. 78 kg reichen zu.
Nachlรคssigkeit
Gottes Mรผhlen mahlen langsam, jedoch sie mahlen. Dies gilt auch fรผr weltliche Behรถrden und รmter. Selbst Gerichte sind nicht ausgenommen.
Im Sommer 2016 lag ein Gerichtsschreiben in meinem Briefkasten. Keiner mag solche Briefe. Ich auch nicht. Es stellte sich heraus, dass endlich der Versorgungsausgleich geklรคrt werden sollte. Fast 20 Jahre nach der Scheidung. Wow! Allerdings gab es ein Problem. Durch das Elbehochwasser im August 2002 wurden viele archivierten Akten vernichtet. Aus diesem Grund sollte ich Akten beibringen. Mein erster Gedanke war der, dass ich mein damaliges Aktenzeichen vom Sozialamt angebe. Vielleicht existieren dort noch die Unterlagen. Schlieรlich hatten sie jahrelang jedes Blatt fรผr ihre Akten kopiert. Ich entschied mich anders. Eine Woche spรคter rief ich beim Gericht an und vereinbarte mit der Bearbeiterin einen persรถnlichen Termin. Sie sollte selber schauen, was sie braucht. Ich hatte รผber 100 Seiten. Die nette Dame erklรคrte mir noch, dass sie im Anbau sitzt. Von auรen kannte ich diesen. Ich nahm an, dort befinden sich nur Bรผros. Fehlanzeige! Als ich fรผnf Minuten vor dem Termin ankam, musste ich feststellen, dass auch hier Kontrollen durchgefรผhrt werden. Ein wenig Panik stieg, wegen des Zeitdrucks, bei mir auf. Ich liebe Handtaschen mit mehreren kleinen Fรคchern. Dadurch muss ich nicht wรผhlen, sondern weiร stets, wo sich was befindet. Die Dame schaute zuerst in meinen Stoffbeutel mit den Akten. Dann รถffnete sie von meiner Handtasche kurz das Hauptfach und lieร mich passieren. Puh, noch einmal gut gegangen. Pรผnktlich klopfte ich an der Zimmertรผr. Nachdem wir alles geklรคrt hatten, fragte ich, was die Kontrollen im Erdgeschoss sollten. โSie wissen doch, dass im Juli 2009 bei einer Gerichtsverhandlung die รgypterin Marwa El-Sherbini erstochen wurde.โ โJa.โ sagte ich. โEs geht auch um ihre Sicherheit. Die Kontrollen im Erdgeschoss sollten eigentlich grรผndlich sein. Schauen sie mal, was ich hier habe.โ Ich holte aus meiner Handtasche mein kleines Damentaschenmesser, was ich immer dabeihabe. Entsetzt sah mich die Bearbeiterin an. Bei der nรคchsten Dienstberatung wollte sie das Thema ansprechen.
Anschlieรend hatte ich Zeit. Ich beschloss, noch einmal die Dame am Einlass anzusprechen. โSie sollten etwas sorgfรคltiger kontrollieren.โ, sagte ich ihr, โich habe ein Taschenmesser dabei.โ Im besten Dresdner Dialekt antwortete sie mir: โNu, warum sagen sie das nicht?โ Ich machte, dass ich nach drauรen kam. Dort konnte ich einen Lachanfall nicht unterdrรผcken. ‚Am besten,‘ dachte ich, ‚ihr hรคngt ein Schild รผber euren Tresen mit dem Text: Mordabsichten hier anmelden! Dazu Anmeldeformulare in mehreren Sprachen. Der letzte Abschnitt, vor der Unterschriftenleiste, sollte lauten: Unternehmen Sie nichts. Warten Sie auf unsere abschlรคgige Antwort.
Eistrรคume aus Kindertagen
Es รผberkam mich wieder einmal. Kein Weg ging daran vorbei. Das Ziel zog mich magisch an. Endlich stand ich vor der original Eisbar an der St. Petersburger Straรe in Dresden. Am liebsten hรคtte ich mir eine groรe Portion, eingehรผllt in drei muschelfรถrmigen Waffeln, gekauft. Nur mit 63 Jahren bekommt man รbergewicht schwerer wieder runter. Also eine mittlere Portion mit 2 Waffeln tut es auch. Obwohl dieses leckere Eis weniger Kalorien hat, als man glaubt. Das Eis tut der Seele gut. Es werden Kindheitserinnerungen wach. Oft stand ich mit meinen Groรeltern oder Eltern am Fucik-Platz, dem heutigen Straรburger Platz, am mobilen Haselbauer-Wagen. Mein Bruder und ich freuten uns auf das Eis. Das Warten nahmen wir in Kauf. Sogar mit Kรผhltaschen standen Leute an. Durch kleine Spielchen verkรผrzte Opa oft die Wartezeit. Meistens wurde der Ausflug mit einer Fahrt in der Pioniereisenbahn (heute Kindereisenbahn) verbunden.
Auch in der Jugendzeit endete ein Vogelwiesenbesuch bei Haselbauer. Manchmal kaufte man sich als Paar ein Eis. Zuerst schleckte man am Eis wechselseitig und anschlieรend seinen Partner/Partnerin ab. Erste kleine zarte, liebevolle Annรคherungsversuche.
Jahre nach der Wende war ich entsetzt, als ich von der Aneignung des Wortes โ Haselbauer โ durch eine fremde Person hรถrte. Zum Glรผck verfรผgt sie nicht รผber das Original-Rezept. Der Traditionsfamilie halte ich weiterhin die Treue und kann das Eis bestens weiterempfehlen. Schaut einfach mehrmals an der St. Petersburger Str. 32 vorbei.
Dornen und Stacheln
Auch wenn ich es mir kaum vorstellen kann, ich war einmal ein Kleinkind und mein Vater ein junger Mann. Mit Leidenschaft sammelte er Kakteen und Sukkulenten. Meiner Mutter waren es oft zu viele.
Als ich 2 Jahre alt war, stand ein Umzug ins Haus. In der neuen Wohnung musste alles wieder an seinen Platz gestellt bzw. ein neuer gefunden werden. Das dauert seine Zeit.
Eine Kiste mit den groรen stachligen Kakteen stand noch auf dem Fuรboden und wartete darauf, aufgerรคumt zu werden.
Am Abend durfte ich in die neue Badewanne. Welch ein Vergnรผgen! Ausgelassen planschte ich im Wasser. Als meine Mutter mich rausholte und abtrocknen wollte, entwischte ich ihr und rannte nass und nackig um den runden Esstisch herum. Dabei verlor ich die Balance und landete mit meinem Hintern in der Kakteenkiste. Schreiend legte mich meine Mutter auf dem Bauch auf unseren Esstisch. Mittels Pinzette holte sie mir in einer schmerzhaften Prozedur jeden Stachel und jede Dorne einzeln aus dem Hintern. Es dauerte seine Zeit, wie man sich vorstellen kann.
Bis heute habe ich ein gespaltenes Verhรคltnis zu Kakteen. Ich erfreue mich lieber an Zimmerpflanzen.
Schlรผpfrigkeiten
Wer kennt sie noch? Diese alten Baumwollschlรผpfer, die stรคndig so rau waren und kratzten? Da sie wรคrmen sollten, gingen sie bis zum Knie. Schrecklich! Schon als 2-Jรคhrige habe ich mich dagegen gewehrt. Ich wollte sie nicht anziehen und machte stets Theater. Damals wohnten meine Eltern noch mit meinen Groรeltern gemeinsam in einer Wohnung. Meine Omi versuchte es รถfters mit รberredungskรผnsten. โSchau, ich trage doch auch solche.โ sprach sie und hob als Beweis ihren Rock hoch. Es kam, wie es kommen musste. Schon Ende der 50er Jahre gab es beim Einkaufen Warteschlangen. Die sozialistische Wartegemeinschaft war bereits damals Realitรคt. Mir wurde langweilig. Plรถtzlich fiel mir ein, dass meine Omi mir heute noch nicht ihre Unterwรคsche gezeigt hatte. Mit der Lautstรคrke eines Kleinkindes fragte ich: โOmi hast du heute wieder den langen Schlรผpfer an?โ Gleichzeitig hob ich ihren Rock hoch. Alle lachten. Nur meine Omi nicht. Mit hochrotem Kopf und mir an der Hand verlieร sie den Laden. Nie wieder hob sie in meiner Gegenwart ihren Rock hoch.
Einkaufen macht Spaร
Anfang der sechziger Jahre wurden in der damaligen DDR die ersten Selbstbedienungslรคden von der HO erรถffnet. Mein Bruder ist im Mรคrz 1961 zur Welt gekommen. An einem schรถnen Sommertag ging meine Mutter mit uns Kindern einkaufen. Friedlich schlief mein Bruder im Kinderwagen. Wie seinerzeit รผblich, stellte meine Mutter den Kinderwagen vor dem Laden ab. Mit meinen 3 Jahren beobachtete ich alles. Meine Mutter nahm, wie die anderen Frauen auch, am Eingang einen Metallkorb. Dann legten sie aus den Regalen etwas in ihre Kรถrbe hinein. Am Ausgang war ein Tisch, wo sich eine Verkรคuferin befand. Dort gingen die Frauen vorbei und wechselten ein paar freundliche Worte mit ihr. Meine Mutter war beschรคftigt. Also nahm auch ich mir einen leeren Korb. Am Sรผรwarenregal legte ich von jeder Schokolade zwei Tafeln bzw. Tรผten in meinen Korb. Die Verkรคuferin am Ausgang war beschรคftigt und interessierte sich nicht fรผr kleine Kinder. Auรerdem wusste ich nicht, welche Aufgabe sie hatte. Drauรen legte ich von jeder Sorte eine Tafel bzw. Tรผte auf die Kinderwagendecke. Wenn er munter ist, wird mein Bruder sich schon bedienen, dachte ich. Selber setzte ich mich auf die Stufen vorm Laden und รถffnete eine Tafel Schokolade. Ich konnte nicht verstehen, warum die Erwachsenen auf einmal so aufgeregt waren. Sie haben es doch auch so gemacht. Leider musste meine Mutter die angerissene Tafel Schokolade bezahlen. Alles andere konnte sie zum Glรผck zurรผckgeben.
Kleine Kinder sollte man nie aus den Augen verlieren. Ihre Gedanken sind unergrรผndlich.
Falsche Interpretation
Ein groรes und wichtiges Ereignis ist fรผr jedes Kind die Schuleinfรผhrung. Der Tag wird regelrecht herbeigesehnt. Stolz trรคgt jeder seine Zuckertรผte nach Hause. Die Fotos bleiben noch Generationen danach erhalten. Jedoch ist der Tag schnell vorbei und das Abenteuer Schule beginnt. Bei mir gab es gleich in der ersten Woche Schwierigkeiten. Und das kam so: zum Pausenklingeln erklรคrte die Lehrerin: โLiebe Kinder, morgen machen wir an diesem Punkt weiter.โ Danach verlieร sie den Klassenraum. Es war ganz in meinem Sinn. Also nahm ich meinen Ranzen und ging nach Hause. Was die anderen Kinder machten, interessierte mich nicht. War deren Sache. Zu Hause angekommen, war meine Mutter total erschrocken. Wahrheitsgemรคร erzรคhlte ich ihr alles. Sofort brachte sie mich zurรผck zur Schule. Dort war der Lehrerin mein Fehlen noch nicht einmal aufgefallen. Diesen Satz hรถrte ich allerdings nie wieder von ihr.
Spรคter konnte sich meine Lehrerin auf gemeine Art und Weise revanchieren. In einem Diktat ging es ums Einkaufen. Bei der Rรผckgabe der korrigierten Arbeiten mussten ein Mitschรผler und ich nach vorn. Unsere Lehrerin warf uns vor, dass wir gestohlen haben. โDas wรผrde ich nie tun.โ kommentierte ich diese Anschuldigungen entsetzt. โDoch.โ erwiderte sie. โIhr habt in der HO (Handelsorganisation der DDR) Milch, Eier und Butter gestohlen.โ Sofort war mir klar, worum es ging. Der Satz im Diktat lautete: Ich stelle in den Korb Milch, Eier und Butter. Mein Mitschรผler und ich hatten jedoch stehlen geschrieben. Ich war erleichtert, dass der Vorwurf vom Tisch war. Diesen Fehler machte ich nie wieder.
Mein Wagen
Als ich ungefรคhr 8 Jahre alt war, wurde meine Mutter leider krank. Sie lag fast ausschlieรlich im Bett. Der Arzt machte Hausbesuche. Mein Vater konnte arbeitsbedingt nicht bei der Familie sein. Er kam nur aller 14 Tage zum Wochenende fรผr 1,5 Tage, da damals auch sonnabends gearbeitet wurde.
Ich half meiner Mutter so gut es ging. Fegen und auch meinen Bruder ins Bett bringen konnte
ich. Unsere Nachbarin schaute laufend nach uns. Sie kochte auch fรผr uns. Da sie aus Schlesien stammte, schmeckte mir das Essen besonders gut. Es war einmal etwas anderes. Auch einkaufen ging ich. Die Lรคden waren nicht weit. Meine Mutter schrieb den Einkaufszettel und legte das Geld dazu. Ich nahm meinen stabilen Puppenwagen. Meine Puppe musste zu Hause bleiben. Am Gemรผseladen angekommen, stellte ich ihn davor ab. Ich ging hinein und รผbergab der Verkรคuferin den Zettel und die Geldbรถrse. Anschlieรend wurde ich von der Verkรคuferin besorgt gefragt: โWie willst du das denn alles nach Hause tragen?โ Ich streckte mich und mit stolz erhobenem Kopf verkรผndigte ich fรผr alle gut hรถrbar: โDrauรen steht doch mein Wagen.โ Warum alle lachten verstand ich nicht. Meiner Mutter wurde diese Geschichte spรคter zugetragen. So ist sie bis heute noch Gesprรคch in der Familie.
Experiment mit Radieschen
Jedes Jahr war meine Mutter รถfters voll beschรคftigt mit dem Einkochen von Obst und Gemรผse. Fรผr uns Kinder sah es nach viel Arbeit aus und wir mieden die Kรผche. Was uns aber nicht davon abhielt, heimlich Kirschen zu stibitzen. Auch grรผne Bohnen schmeckten uns roh. Die fertigen Glรคser kamen wohl geordnet, mit Datum versehen, in den Keller ins Regal. Eines Tages kam mein Vater auf die Idee, Radieschen einzukochen. Als Chemiker hรคtte er es eigentlich besser wissen mรผssen. Meine Mutter versuchte vergeblich, ihn vom Gegenteil zu รผberzeugen. Mein Vater รผbernahm sein Experiment hรถchst persรถnlich. Er verstaute seine zwei Glรคser im Keller bei den anderen. Sechs Monate spรคter kam meine Mutter mit den beiden Glรคsern in der Hand aus dem Keller. Sie stellte sie auf den Kรผchentisch. In einer total milchigen Brรผhe waren nur vereinzelt rote Punkte zu sehen. Meine Mutter wollte die Glรคser so, wie sie waren, entsorgen. Mein Vater bestand darauf, ein Glas probeweise zu รถffnen und tat es auch. Ich rannte fluchtartig aus der Kรผche. Diesen fauligen modrigen Gestank hielt kein Mensch aus! Mir wurde schlecht und ich musste mich รผbergeben. Wochenlang hielt sich der Geruch, trotz stรคndigen Lรผftens und Durchzug, in der Wohnung. Selbst heute noch, 55 Jahre spรคter beim Aufschreiben der Geschichte, wird es mir gedanklich schlecht. Ich habe dann diesen รผblen Geruch wieder in der Nase.
Nacktblende
Mein Vater war nicht nur leidenschaftlicher Kakteensammler. Er fotografierte auch sehr gern. Bei Spaziergรคngen, Feiern und Urlauben hatte er neben seinem Fotoapparat auch eine kleine Tasche mit verschiedenen Blenden bei sich. รfters wechselte er diese an seiner Kamera. Es war die Zeit der Dias. Zu Hause erfolgten in regelmรครigen Abstรคnden bei schlechtem Wetter die Diavortrรคge.
Ich war damals 8 Jahre alt. Einmal vergaร mein Vater, ein Dia im Voraus raus zu nehmen. Es war ein Aktfoto von meiner Mutter, aufgenommen im Sommer im Abendlicht. Sie lag zwischen kleinen Tannenbรคumchen. Ich war entsetzt. Schon am FKK-Strand hatte ich mich anfangs geziert, jedoch schnell daran gewรถhnt. Aber das hier ging mir eindeutig zu weit. Ich stellte meinen Vater zur Rede. โDie Mutti war angezogen.โ, beruhigte er mich. โIch besitze eine Nacktblende. Diese blendet bei Menschen die Kleidung aus.โ Ich glaubte ihm und war fรผr den Moment beruhigt. Allerdings hatte mein Vater zwei Jahre lang nun mit mir ein Riesenproblem. Ich lieร mich von ihm nicht mehr fotografieren. Die Angst, unbekleidet auf den Fotos zu erscheinen, war zu groร. Auch die Versicherung meines Vaters, dass er anfรคnglich gelogen hatte, half nicht. Ich glaubte ihm nicht mehr. Mit zunehmender Reife kam aber bei mir die Erleuchtung und Fotografieren war erlaubt.
Sauer macht nicht immer lustig
Bereits bei meinen ersten Leseversuchen bekam ich von meinen Eltern die ABC – Zeitung zum Geburtstag geschenkt. Sie erschien einmal monatlich. Genauso, wie die Frรถsi (Frรถhlich sein und singen). Nach den Anfangsjahren verdrรคngte diese bei mir die ABC – Zeitung. In der Frรถsi standen jedes Mal auch verschiedene Gerichte und Backrezepte zum Ausprobieren.
Einmal entdeckte ich ein Rezept, nach welchem Sรผlze selbst hergestellt werden konnte. Mein Vater und ich aรen sehr gern Saures. Sรผlze war einfach lecker. Mein Vater war bereit, es mit mir zu probieren. Meine Mutter wurde beauftragt, die Zutaten zu besorgen. Sie wandte zwar ein, dass ein Druckfehler enthalten war. Ihrer Meinung nach war bei der Angabe der Essigmenge das Komma verrutscht. Da bei ihr Sรผlze nicht auf dem Speiseplan stand, wurde sie von uns รผberstimmt. Schon bei der Zubereitung stank die Kรผche nach Essig. Spรคter aรen mein Vater und ich tapfer die Sรผlze, obwohl sie ungenieรbar war. Die Blรถรe wollten wir uns nicht geben. Es dauerte nicht lange und uns wurde schlecht. Wir lagen in unseren Betten, wenn wir nicht gerade auf der Toilette waren.
Einen Monat spรคter erschien in der nรคchsten Ausgabe der Zeitschrift die Berichtigung. Der Druckteufel hatte zugeschlagen. Meine Mutter hatte recht.
โDas haben wir am eigenen Leib gespรผrtโ, war mein einziger Kommentar dazu.
Der Affenbrotbaum
Zu meinem 13. Geburtstag bekam ich einen Affenbrotbaum geschenkt. Meine erste Zimmerpflanze. Ein Blumenstrauร stand immer auf dem Geburtstagstisch, aber noch nie eine Zimmerpflanze. Die Freude meinerseits war groร. Tรคglich kรผmmerte ich mich um sie. An Wasser mangelte es nicht, davon bekam sie von mir reichlich. Irgendwann ging sie ein.
Zu meinem 14. Geburtstag wรผnschte ich mir ein Buch รผber Zimmerpflanzen. Ich bekam es auch. Schnell schlug ich es auf und wollte wissen, was ich falsch gemacht habe. Unter der Rubrik Affenbrotbaum war der erste Satz: โDer Affenbrotbaum ist eine unverwรผstliche Pflanze.โ Wรผtend schmiss ich das Buch in die Ecke und habe es nie wieder benutzt. Bis heute habe ich keinen grรผnen Daumen. Entweder รผberleben die Pflanzen bei mir oder nicht. Meine Schwรคgerin hat mir schon einen kleinen Affenbrotbaum angeboten, um mein Verhรคltnis zu Pflanzen wieder gerade zu rรผcken. Ich zรถgere noch.
Volksrรถntgenaktion in der DDR
Zur Frรผherkennung von Tuberkulose wurde in der DDR viel getan. Es gab regelmรครig Volksrรถntgenaktionen. Die bekannten Rรถntgenbusse waren gefragt und beliebt. Die Bevรถlkerung lieร sich stets rรถntgen. Auch ich kann mich noch gut an die Busse auf unserem Schulhof erinnern. Ein Rรถntgenbus war fรผr die Frauen und der andere fรผr Mรคnner.
Auch mein Vater ging zum Rรถntgen. Eines Tages klingelte es an unserer Tรผr. Meine Mutter รถffnete. Zwei Mรคnner standen davor. Sie fragten nach meinem Vater. Er war auf Arbeit. Meine Mutter wurde kreidebleich. Das Rรถntgenbild hรคtte ergeben, dass er sterbenskrank wรคre. Direkt von seiner Arbeitsstelle musste er ins Krankenhaus. Meiner Mutter stand die Angst ins Gesicht geschrieben. Zum Glรผck klรคrte sich bald alles auf und die Farbe kehrte ins Gesicht meiner Mutter zurรผck. Auch mein Vater war erleichtert. Das Rรถntgenbild wurde verwechselt. Mein Vater war kerngesund.
Ich hoffe nur, dass der Betroffene noch rechtzeitig gefunden wurde.
Insgesamt gesehen, waren diese groร angelegten Aktionen zu DDR-Zeiten eine gute Sache. Dadurch konnte manches Leben gerettet werden.
Spickzettel
Seit Generationen von Schรผlern gibt es sie. Die Spickzettel. Fรผr die Schรผlerschaft der verschiedenen Jahrgรคnge boten sich auch unterschiedliche Mรถglichkeiten.
Wenn ich heute mit meinen sechs Kindern darรผber rede, bekomme ich nur ein mรผdes Lรคcheln.
Natรผrlich. Im Zeitalter der Technik gibt es ganz andere Mรถglichkeiten. Frรผher hat es aber auch Spaร gemacht.
Manchmal habe ich zum Beispiel die offene Art des Spickens gewรคhlt. Unser Klassenleiter war gleichzeitig unser Chemielehrer. Er war ein nervรถser, fahriger und zerstreuter Mann. Obwohl mein Vater Diplom-Chemiker war, habe ich Chemie gehasst. In der 8. Klasse war in Chemie wieder eine Arbeit angesagt. Ich schlug das Chemiebuch direkt vor mir auf. Plรถtzlich bekam ich einen Stupser von meinem Banknachbarn. Es war leider zu spรคt. Unser Lehrer stand direkt hinter mir. Innerhalb von Sekunden entwickelte ich eine Idee. โKรถnnten Sie mir bitte mal diesen Abschnitt hier erklรคren. Ich verstehe es einfach nicht.โ Laut fรผr alle erklรคrte er es bereitwillig. Ihm kam dabei gar nicht in den Sinn, dass wir gerade eine Arbeit schrieben. Meine Klassenkameraden grinsten und beugten sich รผber ihre Arbeit. Ich bedankte mich mit den Worten: โJetzt sehe ich klarer.โ In Wirklichkeit verstand ich nichts. Sogar beim Korrigieren der Arbeiten merkte unserer Lehrer nichts, sonst hรคtte ich eine glatte Fรผnf gefangen. Das war zu DDR-Zeiten die schlechteste Zensur.
In der 10. Klasse wรคhlte ich Chemie als Prรผfungsfach. Mein Klassenlehrer war entsetzt und stellte mich zur Rede. โSie und mein Vater werden mich schon nicht durchfallen lassen.โ war meine Antwort. Mein Plan ging auf. Die Drei auf dem Zeugnis hat mir dann auch gereicht.
Als Mรคdchen konnten wir damals Anfang der 70er-Jahre unsere super kurzen Minirรถcke benutzen. Der Spickzettel war schnell angeklebt. Keine Lehrerin oder Lehrer wรผrde es wagen, den Saum umzudrehen.
Eine weitere Mรถglichkeit war die Westverwandtschaft meiner Eltern. Ich hatte eine kleine Kiste voller Kugelschreiber. In einem Klarsichtfeld war Werbung untergebracht. Drehte man am Stift, erschien eine neue Werbung. Diese Werbung konnte man entfernen und durch einen Spickzettel ersetzen. Nur musste ein Feld frei bleiben, fรผr den Fall, dass der Lehrer neben einem stand. Da ich damals noch gute Augen hatte, konnte ich in kleiner Schrift viel unterbringen.
Vieles fรคllt mir noch ein. Man kann ein Buch รผber Spickzettel schreiben.
Noch ein paar passende Sprichwรถrter zum Schluss: Dumm darf man aussehen, man muss sich nur zu helfen wissen. Man muss nicht alles wissen, man muss nur wissen, wo es steht.
Pionierveranstaltung mit Folgen
Nach erfolgreichem Abschluss meiner Lehre im Sommer 1976 wurde ich der Abteilung Lohnbuchhaltung zugeordnet. Diese bestand aus 16 Frauen, wovon die Hรคlfte รผber 50 Jahre alt war und in absehbarer Zeit mit 60 in ihren wohlverdienten Ruhestand gehen wรผrde. Es musste โfrisches Blutโ rein. Folgerichtig wurde mir auch gleich die Aufgabe als Verbindungsfrau zur Patenklasse einer nahe gelegenen POS zugewiesen. Dabei unterstรผtzte mich eine รคltere Kollegin. Eine schรถne Abwechslung im Arbeitsalltag. Zur Zeugnisausgabe รผberbrachte man kleine Geschenke. Auch bemรผhte sich die Patenbrigade, die Klassenkasse fรผr Wandertage und andere Zwecke aufzufรผllen.
Im Sommer 1977 fuhr ich mit meinem Verlobten an die Ostsee. Einen Tag machten wir einen Abstecher ins nahe gelegene Polen. Unter uns Jugendlichen hatte es sich rumgesprochen, dass es in der grenznahen Stadt in einer Seitengasse einen kleinen Laden gab, der moderne Kleidung verkaufte. Wir entschieden uns fรผr ein weiรes T-Shirt mit Aufdruck auf der Brust. Mit groรen fetten
Buchstaben stand da in zwei Reihen gedruckt ein polnisches Wort. Wir konnten kein polnisch, aber das war uns egal. Die Buchstaben waren ausgefรผllt mit der Flagge der USA. Sogar im Bindestrich war dies gut erkennbar. Aus einem Bauchgefรผhl heraus, lieร ich mir den Kassenzettel aushรคndigen. Ich hatte Bedenken wegen dem Zoll. Doch wir wurden nicht kontrolliert.
Im September 1977 erhielten wir auf Arbeit die Einladung der Patenklasse zur 1. Pionierveranstaltung im neuen Schuljahr, wo auch der Pionierrat der Klasse gewรคhlt wird.
Am Morgen zog ich mein T-Shirt an und ging auf Arbeit. Nach dem Mittag machten meine Kollegin und ich uns auf den Weg. Als Abordnung der Patenbrigade saรen wir im Prรคsidium. Die Veranstaltung verlief ohne Vorkommnisse und wir freuten uns auf unseren vorgezogenen Feierabend.
Gleich am nรคchsten Morgen zu Arbeitsbeginn musste ich mich bei der Abteilungsleiterin melden. Diese deutete auf mein T-Shirt und fragte: โHatten Sie das gestern an?โ Daher weht der Wind, schoss es mir durch den Kopf. Entweder die Pionierleiterin oder die Klassenleiterin, vielleicht auch die Elternaktivvorsitzende hat mich beim Direktor der Schule verpetzt. Dieser rief wiederum den Betriebsdirektor an, welcher seine Wut an der Abteilungsleiterin auslieร. โJaโ, antwortete ich. โWas wagen Sie sichโ, knurrte sie mich an. Mit unschuldiger Miene fragte ich zurรผck: โWieso? Dieses T-Shirt habe ich im Sommer im sozialistischen Bruderland Polen in einem staatlichen Laden gekauft. Der Kassenzettel ist noch in meinem Besitz.โ Sofort wurde ich nach Hause geschickt, ihn zu holen. In der Zwischenzeit wurde meine Kollegin angehรถrt, warum sie das Ganze nicht verhindert hat. Dann hรถrte ich reichlich 3 Wochen nichts. Bis ich doch noch eines Tages den Kassenzettel von der Abteilungsleiterin zurรผck erhielt. โIn Polen ist nicht alles so, wie es sein sollte. Dort muss noch viel Aufklรคrungs- und Propagandaarbeit geleistet werden. Tragen Sie bitte ihr T-Shirt nur in der Freizeit.โ Und damit war die Sache abgetan. Viel Wind um nichts.
Naivitรคt
Campingurlaube stehen bei mir รผberhaupt nicht hoch im Kurs. Leider hatte man frรผher nicht viele Mรถglichkeiten, seinen Urlaub anders zu verbringen. Im Sommer 1977 bin ich mit meinem Verlobten an die Ostsee gereist. Im Gepรคck hatten wir ein kleines Zweimannzelt, in dem man noch nicht einmal stehen konnte. Die Gegend war wunderbar. Tag und Nacht hรถrte man das Rauschen der Wellen. Leider war der Sommer sehr feucht. Am wohlsten fรผhlten wir uns abends im geheizten Zeltkino. Der Film war Nebensache. Danach wurde ein krรคftiger Schluck aus der Flasche genommen. War man von innen gewรคrmt, ging es ab in den Schlafsack.
Durch den Zeltplatz verlief eine asphaltierte Straรe, die nachts stark beleuchtet war. Unweit fing der Wald an. Im Schlafsack gehรผllt, hรถrte ich eines Nachts, wie sich einige Leute unterhielten. โSchaut mal, dort am Waldesrand. Das sind ja mehrere Bachen mit vielen Frischlingen.โ Ich bekam es mit der Angst zu tun. Hatten wir doch im Zelt, direkt an der Zeltwand, unsere Vorrรคte liegen. Unter anderem einen Sack Kartoffeln. โDie Wildschweine gehen nicht รผber die beleuchtete Asphaltstraรe. Das trauen sie sich nichtโ beruhigte mich mein Verlobter. Ich glaubte seinen Ausfรผhrungen und schlief schnell und tief ein. Erst zu Hause erklรคrte er mir, dass er am nรคchsten Morgen Spuren um unser Zelt herum gesehen hat. Sogar das ist mir nicht aufgefallen. Am liebsten hรคtte ich ihn nachtrรคglich รผbers Knie gelegt. Anderseits โ eine riesige Naivitรคt meinerseits lรคsst sich nicht leugnen.
Wo steht mein Bett?
Prag ist eine sehr schรถne Stadt und nicht nur fรผr Verliebte ein beliebtes Ziel. Es war das Jahr 1978. Mein Verlobter und ich verbrachten dort ein wunderschรถnes, verlรคngertes Wochenende. Ein Hotel war schnell gefunden. An der Rezeption schenkte man uns bei der Ankunft einen Stadtplan. Wir genossen die Tage. Am letzten Abend wollten wir uns die kleinen hรผbschen Bars nรคher anschauen. Zum Schluss landeten wir in einem Weinkeller. Es war gemรผtlich und schmeckte hervorragend. Der Wein tat sein รbriges. Gegen 2 Uhr in der Frรผhe verlieรen wir das Lokal. Mein Verlobter hielt sich an mir fest. Seine Sprache war alles andere als deutlich. Ich lehnte ihn gegen die Hauswand und kramte den Stadtplan hervor. Wie ich ihn auch drehte und wendete, ich fand keinen Ansatzpunkt. Im Gegenteil. Irgendwie hatte ich das Gefรผhl, dass es sich um eine imaginรคre 3 D Karte handelte. Auf der anderen Straรenseite beobachtete uns ein junger Mann. Ich bemerkte ihn nicht. Er kam herรผber. Mit leichtem Akzent sprach er mich im perfekten Deutsch an. โWohin willst du?โ โNa, ins Bett.โ war meine knappe Antwort. โUnd wo steht dein Bett?โ wollte er lรคchelnd wissen. โNa, im Hotel.โ erklรคrte ich. Immer noch freundlich, versuchte er es weiter. โUnd wo ist das Hotel?โ โNa, in Prag.โ kam meine spontane Antwort. Jetzt musste er laut lachen. โDa sind wir.โ war sein Kommentar. Zum Glรผck hatte ich einen Gedankenblitz. โIrgendwo auf der Karte muss ein Stempel vom Hotel sein.โ sagte ich. Er fand ihn. Das Hotel war gleich um die Ecke. Allerdings dauerte der Weg aufgrund unseres Zustandes eine Weile. Ich entlohnte den jungen Mann reichlich.
Am nรคchsten Morgen wollten wir noch einen kurzen Spaziergang machen, ehe wir zum Bahnhof mussten. Vor dem Hotel wartete der junge Mann. โNa, brauchst du einen Stadtfรผhrer?โ, bot er sich an. Ich erklรคrte ihm, dass es keinen Sinn hat. Mein Verlobter fragte mich: โWann hast du ihn denn kennengelernt?โ Ich schรผttelte nur den Kopf. โSelbst, wenn in deiner Anwesenheit Konkurrenz naht, bekommst du es nicht einmal mit.โ
Ehekredit
In der DDR waren die jรคhrlichen Zahlen der Trauungen hoch. Leider auch die der Scheidungen. Man heiratete sehr jung. Oft spielte auch die Aussicht auf eine Wohnung eine Rolle. Die Regierung fรถrderte Eheschlieรungen mit einem zinslosen Ehekredit in Hรถhe von 5000 Mark. Natรผrlich waren daran ein paar Bedingungen geknรผpft. Diese waren jedoch nicht sehr hoch. Fรผr beide Partner musste es die erste Ehe sein. Keiner durfte รคlter als 25 Jahre alt sein. Und das monatliche Gesamtbruttoeinkommen durfte nicht รผber 1400 Mark liegen. Dann stand keine Hรผrde mehr im Wege. Man hatte ein Jahr Zeit, das Geld auszugeben. Vielen half das Geld bei der Einrichtung des eigenen Hausstandes.
Bei der Geburt eines Kindes wurden 1000 Mark erlassen. Kam das zweite Kind zur Welt, waren es bereits 1500 Mark. Damit brauchte man nur 2500 Mark zurรผckzahlen. Wenn innerhalb von acht Jahren ein drittes Kind geboren wurde, bekam man alles zurรผck, was man bereits eingezahlt hatte.
Im August 1979 heiratete ich. Mein monatliches Bruttogehalt betrug 699 Mark. Fรผr meinen Mann war der August der letzte Monat seines Studentenlebens. Also konnten wir den Ehekredit in Anspruch nehmen. Unter anderem kauften wir davon eine Schrankwand. In der ehemaligen DDR waren solche Gรผter teuer. Im Mรคrz 1987 erblickte unser drittes Kind das Licht der Welt. Somit waren die 5000 Mark ein Geschenk.
Heute wรผnschte ich Brautpaaren auch diese Mรถglichkeit. Wรคre begrรผรenswert.
Der Freitaler Wasserfall
Nach meiner Hochzeit im Sommer 1979 zog ich zu meinem Mann nach Freital. Er bewohnte bereits eine kleine 2-Raum-Dachgeschosswohnung in einem 6-Familienhaus. Die Wohnung bestand nur aus drei Rรคumen โ Kรผche, Stube und Schlafzimmer. Nur die Stube war beheizbar. Auรerhalb der Wohnung befand sich das Plumpsklo. Das Schlafzimmer war bereits baupolizeilich gesperrt. In der Kรผche an der Spรผle war die einzige Wasserstelle. Das Abwasser floss von der Spรผle in die Regenrinne und von dort mittels Fallrohr in die Erde. Manchmal war es im Winter so kalt, dass mein Mann nach der Arbeit mittels Bunsenbrenner das vereiste Rohr unterhalb der Spรผle wieder durchgรคngig machen musste.
Im Juni 1980 kam unsere Tochter zur Welt. Es waren andere Zeiten. Jeden Tag wusch ich bei 95 Grad Celsius die Windeln in meiner WM 66. Auch war es seinerzeit รผblich ein Neugeborenes tรคglich zu baden. Da ich nicht stillte, mussten auch die Flaschen stets ausgekocht werden. Das heiรe Wasser kippte ich einfach in die Spรผle. Vielleicht passierte es dadurch. Da am gesamten Haus der Putz nur noch bruchstรผckhaft zu sehen war, lรถsten sich die Schellen vom Fallrohr und es ragte schrรคg in die Luft. Wir meldeten dies noch am gleichen Tag mit entsprechendem Dringlichkeitsvermerk der Kommunalen Wohnungsverwaltung, kurz KWV. Was blieb uns รผbrig? In die Jauchengrube konnte ich das Wasser nicht schรผtten. Schlieรlich rechnete mein Mann aus, dass wir mit Baby tรคglich 250 – 300 Liter Wasser verbrauchten. Also goss ich es weiterhin in die Spรผle. Der ehemalige Hausbesitzer hatte hinter dem Haus seine Werkstatt und ums Haus herum seine Grabsteine zum Verkauf aufgestellt. Also platschte das Wasser auf die Grabsteine. Von dort spritzte es gegen die Hauswand oder auf den Fuรweg.
Reichlich drei Wochen spรคter war es immer noch nicht repariert. Eines Tages klingelte es plรถtzlich an meiner Wohnungstรผr Sturm, auรerdem wurde wie wild geklopft. Ich รถffnete und vor mir stand ein Mann etwa Anfang 50. Er fuchtelte wild mit einem Ausweis vor meiner Nase rum, so dass ich nichts erkennen konnte. Er schrie mich an, dass ich kein Wasser benutzen dรผrfte, bis alles wieder in Ordnung ist. Ganz ruhig sagte ich ihm: โDie KWV weiร es seit reichlich drei Wochen. Ich habe ein neun Wochen altes Baby und brauche Wasser. Sie kรถnnen mir ihre Wohnungsschlรผssel geben und selber derweil hier einziehen.โ Wรผtend, vor sich her fluchend, verschwand er wieder.
Am nรคchsten Morgen klopfte es plรถtzlich gegen mein Kรผchenfenster. Ungewรถhnlich bei einer Dachgeschosswohnung. Der Arbeiter auf dem Hubwagen meinte: โLassen Sie jetzt mal bitte kein Wasser runter. Wir arbeiten daran.โ โIch konnte mir eine spitze Bemerkung nicht verkneifen: โAch doch so schnell.โ Grinsend sagte er zu mir: โWenn Sie auch dem 2. Parteisekretรคr von Freital kochend heiรes Wasser รผber die Rรผbe schรผtten, tut sich was.โ
Alles Banane
1979 verkรผndete Erich Honecker, dass es in der DDR keine Mangelwirtschaft, sondern nur vereinzelte Rhythmusstรถrungen in der Versorgung der Bevรถlkerung gรคbe. Diese nahmen allerdings flรคchendeckend zu. Somit gab es auch im Bรผro immer weniger zu verwalten. Man beschรคftigte sich anderweitig. Beliebt waren Scherze am 1. April.
Meine Mutter arbeitete zu der Zeit an der beliebten Borsbergstraรe in Dresden in einem kleinen โTante-Emma-Ladenโ. Am 1. April rief ich dort an und gab mich dem Chef gegenรผber mit verstellter Stimme als Mitarbeiterin vom Groรhandel aus. โEntschuldigung, bei der vorhin ausgehรคndigten Bananenlieferung ist uns leider ein Versehen unterlaufen. Es handelt sich nicht um B-, sondern um A-Ware. Bitte halten Sie diese noch zurรผck. Unser Fahrer ist bereits mit dem korrigierten Lieferschein unterwegs.โ โOh, vielen Dankโ, kam vom anderen Ende der Leitung, โdas ist ja gerade noch mal gut gegangen.โ Nachdem ich auflegte, mussten meine Kolleginnen und ich lachen. โSchadeโ, meinte ich, โer hat meine Stimme wahrscheinlich erkannt.โ Oder sollte vielleicht doch….. รผberlegte ich. Ach Quatsch, ausgeschlossen. Vorsichtshalber rief ich fรผnf Minuten spรคter nochmals an und verlangte meine Mutter. โMutti, den Aprilscherz soeben habt ihr doch erkannt und nehmt ihn mir nicht รผbel?โ fragte ich. Im ersten Moment war Funkstille. Dann gluckste meine Mutter. โAuch, wenn du es nicht glaubstโ, sagte sie, โwir haben heute ein paar Bananen bekommen. Reicht natรผrlich nur fรผr ausgewรคhlte Kundschaft und ist B-Ware. Ich gehe jetzt zum Chef. Der steht vorm Laden und wartet auf den Fahrer. Du Scherzkeks, Tschรผssโ. Auf beiden Seiten wurde noch jahrelang รผber diese Geschichte geschmunzelt.
Die Tรคuschung
Endlich konnten wir aus unserer total nassen Dachgeschosswohnung in Freital ausziehen. Im Juni 1982 hatten wir endlich die Zuweisung fรผr eine Plattenbauwohnung, im vorletzten Stock, in Gorbitz erhalten. Ohne meiner zweiten Schwangerschaft wรคren wir in der Dringlichkeit bei der staatlich gesteuerten Wohnungsvergabe nicht aufgestiegen. Im August 1982 zogen wir um. Das Umfeld sah noch schlimm aus. Kein Grรผn, nur Schlamm und Dreck. Ringsherum wurde noch gebaut. Der Block gegenรผber stand schon da. Dahinter wurde die erste Kinderkombination (Krippe und Kindergarten) hochgezogen.
Eines Tages schaute ich aus meinem Kรผchenfenster. Plรถtzlich hatte ich das Gefรผhl, dass sich alles dreht. Schnell setzte ich mich auf den Fuรboden. Eine Schwangerschaft ist halt kein Spaziergang, dachte ich. Nach kurzer Zeit merkte ich, es geht mir blendend. Nach einem zweiten Blick aus dem Fenster wurde mir klar, dass der Kran gegenรผber langsam abgesenkt und abgebaut wurde. Wie schรถn, ich hatte mich nur getรคuscht.
Graue Gardinen
Meine Groรcousine hatte in den 80er-Jahren ein kleines Einfamilienhaus aus dem Jahre 1930 in Reideburg bei Halle geerbt. Das Grundstรผck war schรถn groร und die Kinder hatten viel Platz zum Spielen und Toben. Das Haus lag idyllisch auf dem Land, es war ruhig ringsherum. Ideal fรผr Groรstรคdter zum Erholen. Ich genoss die Zeit dort. Bei der Gelegenheit wollte ich mich auch erkenntlich zeigen und nรผtzlich sein. Das Haus hatte eine Eingangstรผr mit einem kleinen Fenster. Die Gardine, die dort hing, war bereits schwarz. Sie hatte bessere Zeiten erlebt. Auf der Toilette gab es ein noch kleineres Fenster mit einer noch kleineren Gardine. Sie sah nicht besser aus. Ich suchte mir in der Kรผche eine Schรผssel und fรผllte dieseย mit lauwarmem Wasser. Anschlieรend nahm ich beide Storesย ab und tauchte sie zum Einweichen hinein. Nach einer Stunde wollte ich sie per Hand waschen. Nur war mein Schreck riesengroร. Als ich sieย herausnahm, hielt ich nur noch Fetzen in der Hand. Welch ein Glรผck, dass kein Spiegel in der Nรคhe war. Mein dummes Gesicht hรคtte ich nicht sehen wollen. Es war mir รคuรerst peinlich. Ich musste das Versehen meiner Groรcousine beichten. Gleichzeitig versprach ich ihr, neue Storesย zu besorgen. Sie winkte ab.ย โIchย wusste, dass die Gardinen nur noch vom Dreck zusammen gehalten werden. Deshalb lieร ich sie so hรคngen, wie sie waren.โ Das war ihr einziger Kommentar dazu. Diese Lebenseinstellung ist bestimmt Nerven schonend und schรผtzt vor einemย Herzinfarkt.
Der kleine Unterschied
Irgendwann merkt jedes Kind, dass auf Erden zweierlei Geschlecht wandelt. Bei meiner รltesten war dies 1983, zu Beginn ihres Kindergartenlebens, der Fall. Im Kindergarten sind die Toilettenbecken aufย die Bedรผrfnisse der Kleinen abgestimmt und entsprechend niedrig. Wegen der Sicherheit gibt es keine abschlieรbaren Kabinen. Meine Tochter hat wahrscheinlich beobachtet, dass es Jungs gibt, die im Stehen pullern. Zu Hause versuchte sie es auch einmal, indem sie sich auf die Toilettenbrille stellte und so urinieren wollte. Das ging natรผrlich vรถllig schief. Sie traute sich nicht wieder runter und schmutzig war auch alles. Nach diesem gescheiterten Versuch schien ihr der Kindergarten dafรผr geeigneter. Sie wurde von der Kindergรคrtnerin erwischt. Das Theater war groร. Selbstverstรคndlich hatte ich ihr zu Hause schon mit Hilfe eines kindgerechten Buches den Unterschied zwischen Jungen und Mรคdchen erklรคrt. Trotzdem wollte es meine Tochter wissen. Beim 2. Versuch stellte sich meine Tochter einfach im Waschraum รผber den Abfluss im Fuรboden. Wiederum wurde sie erwischt. Dieses Mal wurden sogar meine Erziehungsmethoden in Frage gestellt. Ich musste zur Leiterin zu einem klรคrenden Gesprรคch.ย
Erst als ein Junge der Gruppe einen heftigen Balltreffer im Schritt abbekam, akzeptierte sie ihr Mรคdchendasein und war zufrieden und glรผcklich.
Freesien im Oktober
Meine Omi vรคterlicherseits siedelte im Frรผhjahr 1977, nach dem Tod meines Opas, von der DDR in die BRD รผber. Zwei ihrer Sรถhne lebten dort. Sie war bereits 74 Jahre alt. Ende Januar 1983 stand ihr 80. Geburtstag an. Ich bekam eine Einladung. Da mein zweites Kind Ende 1982 kommen sollte, entschied ich mich zu einer Besuchsreise. Im November 1982 wollte ich in Dresden im Polizeirevier Tharandter Straรe einen Antrag stellen. โSie wollen fรผr ein Rentnerpaar die Antrรคge abholen?โ wurde ich gefragt. โNeinโ, sagte ich, โich mรถchte meine Omi in der BRD besuchen.โ Nochmals wurde nachgefragt: โSie wollen Westbesuch empfangen?โ. โNeinโ wiederholte ich. Verdutzte Gesichter auf der Gegenseite. Mir wurde mein Ausweis abgenommen. Ich wartete. Irgendwann erschien ein Schrank von einer Polizistin und fรผhrte mich in ein extra Zimmer, dessen Fenster vergittert waren. Sie fragte mich ausfรผhrlich nach der Reise. Ich musste den Anlass angeben, den Zeitraum und wer mitfahren mรถchte. Dann verlieร sie den Raum und schloss mich ein. Hochschwanger saร ich nun 40 Minuten lang allein in dem Zimmer. Danach kam sie wieder und verkรผndete mir, dass ich nicht zu dem Personenkreis gehรถre, der eine Besuchsreise genehmigt bekommt. Ich bekam meinen Ausweis wieder und durfte gehen.
Im Oktober 1987 wurde der jรผngere Bruder meines Vaters, welcher mit seiner Familie in Hรผrth wohnte, 50 Jahre alt. Wieder startete ich einen Versuch. Dieses Mal gelang es dank der Reiseerleichterungen. Hocherfreut startete ich die Reise und kam abends in Kรถln an. Am nรคchsten Morgen wollte ich fรผr meinen Onkel zum Geburtstag einen kleinen Blumenstrauร kaufen. Der Blumenladen war leer, kein Kunde zu sehen. Meine Augen wussten gar nicht, wohin sie zuerst schauen sollten. Und es duftete stark nach Freesien. Moment mal, dachte ich, wir haben Oktober. Freesien sind Frรผhjahrsblรผher. Mein Blick fiel auf einen Eimer mit Freesien, der neben der Ladentheke stand. Die Verkรคuferin kam und begrรผรte mich freundlich. Ich zeigte mit dem Finger auf den Eimer. โSind das Freesien?โ โOh, Entschuldigungโ, meinte sie, โich vergaร die Schaufensterware zu entsorgen.โ Schnell verschwand sie mit dem Eimer nach hinten. Fรผr mich unfassbar. Zu Hause bekam ich zu den Geburtstagen meiner Kinder kaum Blumen. Gehen Sie mal in der DDR am 12. Juni โ Lehrertag โ mit diesem Anliegen los. Aussichtslos. Am 24. Dezember haben wir Frauen im Krankenhaus geschmunzelt, weil die frisch gebackenen Vรคter die Alpenveilchen der Mรผtter oder Schwiegermรผtter geplรผndert haben, um nicht mit leeren Hรคnden zu kommen. Mein Sohn kam am 8. Mรคrz zur Welt. Den Frauentag konnten Sie blumentechnisch in der DDR vergessen.
โSie stammen wohl aus der DDR?โ, fragte mich die Verkรคuferin mitleidig. Ich konnte nur nicken. Die gekauften Blumen trug ich stolz, wie einen Brautstrauร, vor mir her.
Ich durfte sogar ein zweites Mal in die BRD fahren. 1988 begleitete mich meine Schwรคgerin. Dieses Mal ging es zum Bruder meiner Mutter nach Bรผckeburg. Auf der Familienfeier war, auรer uns zwei, keiner unter 60 Jahre alt. Eine Bekannte meinte: โHier habt ihr etwas Geld. Geht und kauft euch ein paar Strumpfhosen. Es ist hier nur langweilig fรผr euch. Aber nur die.โ โDanke schรถnโ, meinten wir hรถflich, โwo sollen wir sie denn kaufen?โ. โEgalโ, war die Antwort. โSupermarkt, Rossmann-Drogerie โ wo ihr wollt. Aber nur die.โ โSehr gern und welche sollen wir kaufen?โ โNa, nur die. Das sind die Besten, die haben Qualitรคt.โ Wir waren verwirrt. Eine kurze Weile ging das Gesprรคch in diesem Stil weiter. Dann wurde es meinem Onkel zu bunt. Er fauchte die Bekannte etwas barsch an: โJetzt sage ihnen endlich, dass nur die eine Marke ist.โ โAch soโ, meinte ich, โnun ist alles klar. รbrigens, wenn ich dich bei mir zu Hause nach Immergut losschicke, ist dir auch nicht klar, dass es sich dabei um Kaffeesahne handelt.โ
Das pupsende Kleinkind
Erwartungsvoll saร die gesamte Familie am festlich gedeckten Kaffeetisch. Der Kuchen sah schon lecker aus, der Kaffee duftete.
Mein 1-jรคhriger Sohn saร im Kinderstรผhlchen neben mir. Traurig schaute er mich an. โWas hast du denn, mein Liebling?โ fragte ich. Die Antwort kam prompt. Fรผr alle gut hรถrbar entwich die Luft aus seinem Kรถrper in die Windel. Er strahlte mich an. Ich lรคchelte zurรผck. โDu darfst das noch. Jetzt bist du erleichtert. Schรถn.โ Alle lachten. Plรถtzlich erhob mein Bruder seine Stimme. โDass er sich erleichtert fรผhlt, sieht man ihm an. Aber eigentlich sind es doch Gase, die in dem Moment unserem Kรถrper entweichen. Und Gase sind leichter als Luft. Also mรผssten wir doch schwerer werden.โ Sofort stiegen die Mรคnner aus der Runde in die Diskussion ein. Sogar die Kรผhe wurden erwรคhnt, auch das immer grรถรer werdende Ozonloch. Bei Anwesenheit eines Biologen, eines Chemikers und eines Physikers wollte das Thema kein Ende nehmen. Nach 30 Minuten beendete ich die hitzige Debatte mit den Worten: โJetzt ist Schluss. Ich mรถchte meinen Kaffee genieรen.โ
So konnte auch 23 Jahre danach noch kein abschlieรendes wissenschaftliches Fazit gezogen werden.
Pรคdagogik, die nicht griff
Bei dem Thema Versicherungen erhitzen sich auch auรerhalb der Medien die Gemรผter oft und schnell. Meistens wird geschimpft โ zu hohe Beitrรคge und im Schadensfall wird nur zรถgerlich bezahlt oder รผberhaupt nicht.
Vor vielen Jahren konnte ich ebenfalls in dieser Richtung meine Erfahrungen machen, jedoch anders als gedacht. Und das kam so:
Mein Versicherungsmann war eine Naschkatze. Kein Nutella-Glas war vor ihm sicher. Er wusste, dass ich stets eins im Kรผchenschrank hatte. Wenn er im Wohngebiet dienstlich unterwegs war, rief er vorher bei mir an und lud sich zu einem 2. Frรผhstรผck ein. Ich hatte nichts dagegen. War es doch eine gelungene Abwechslung und man konnte sich austauschen.
Eines Tages, kurz vor den Sommerferien, war es etwas spรคter geworden. Der Mittag nahte. Mein Sohn, der die 6. Klasse besuchte, kam aus der Schule. Sofort รผberreichte er mir einen Brief. Ich erfuhr, dass er wegen unsachgemรครer Behandlung zwei Schulbรผcher bezahlen musste. Sofort zog ich ihn zur Rechenschaft. โWie oft habe ich euch erklรคrt, dass man Schulbรผcher ordentlich behandelt?โ, schimpfte ich. โWoher soll ich jetzt das Geld nehmen?โ Anstatt mir zu antworten, schaute er unseren Versicherungsmann nur herausfordernd an. Dieser reagierte prompt. โDerartige Schludereien bezahlt keine Versicherungโ, meinte er, โIch werde es dir beweisen. Das entsprechende Formular habe ich mit. Wir fรผllen es jetzt aus und du unterschreibst. Da du noch minderjรคhrig bist, muss auch deine Mutti unterschreiben. In etwa drei Wochen bekommst du Post. Und das steht dann ganz dick als รberschrift Ablehnung. Du kannst ja lesen.โ Nach drei Wochen griff ich zum Telefonhรถrer. โEs steht ganz dick Bewilligung daโ konnte ich nur sagen. โDie ganze Pรคdagogik im Eimerโ, kam vom anderen Ende der Leitung.
Ich musste nun meinem Sohn klar machen, dass Schulsachen ordentlich zu behandeln sind. Er feixte nur.
Jahre spรคter kam der jรผngere Bruder aus der Schule und fragte mich: โMutti, deine Versicherungspolice hast du doch noch?โ Mir war alles klar.
Ernst muss weg
Jeden Morgen, nach dem Aufstehen, รถffne ich das Fenster und lasse die frische Morgenluft herein. Im Bad lรคchele ich mein Spiegelbild an. Gern lasse ich mich vom beginnenden Tag verzaubern. Warum sehen viele alles negativ?
Ich sehe mich im Geist als 6-jรคhriges Mรคdchen mit der Zuckertรผte in der Hand. Alle gratulieren mir. Allerdings mit dem Zusatz: โJetzt beginnt der Ernst des Lebens.โ Ich fand es faszinierend, wie aus einzelnen Buchstaben durch Aneinanderreihen Worte wurden. In der 5. Klasse kamen neue Fรคcher und neue Lehrer hinzu. Wieder wurde von vielen der Ernst zitiert. Derweil ist es interessant, zu begreifen, warum es am รquator heiร und am Nordpol kalt ist. Der Zauber der Natur โ wie es funktioniert. Mit Beginn der Lehre kam der Ernst angeblich mit. Auch zu meiner Hochzeit musste er laut Allgemeinheit mitfeiern. Die erste Schwangerschaft wurde vom Ernst betreut. Nur ich sah ihn nicht. Ich sah lediglich das Wunder der Natur, wie in meinem Bauch ein kleines Wesen sich entwickelte. Beim zweiten Kind hieร es: โAber jetzt geht es los. Denn ein Kind ist kein Kind. Erst beim zweiten beginnt die Arbeit.โ Ich genoss regelrecht die Zeit. Zu meinem Glรผck lieร mich mein Umfeld in den nรคchsten vier Schwangerschaften in Ruhe. Erst zu meinem 50. Geburtstag stand der Ernst des Lebens wieder auf der Matte. Angeblich kommen da die ersten kรถrperlichen Beschwerden. Zu meinem 60. Geburtstag wurden diese laut Besserwisser schon grรถรer. Jedoch kann ich mit dem Ernst des Lebens nichts anfangen.
Ich รถffne jeden Morgen mein Fenster, atme tief durch, grรผรe freundlich mein Spiegelbild und lasse mich vom Tag verzaubern.
Spieglein, Spieglein an der Wand
โSpieglein, Spieglein an der Wand. Sag mir, wer ist die Schรถnste im ganzen Land?โ โNa, hallo erst einmal. Natรผrlich du. In dem kleinen WBS 70-Bad passt ja keine weitere Person rein. Aber, was soll das denn jetzt. Ansonsten begrรผรt du mich jeden Morgen lรคchelnd mit den Worten: Schรถn, dass du wieder da bist. Ich weiร, du hรคltst ein Selbstgesprรคch. Trotzdem finde ich diese Art der Begrรผรung schรถn. รberhaupt habe ich in den reichlich 60 Jahren viel mit dir erlebt. Schรถnes und weniger Schรถnes. Als du noch klein warst, bist du immer gehรผpft, um einen Blick in mich zu erhaschen. Und du hast dabei gestrahlt, wenn es dir gelungen ist. Spรคter mit ungefรคhr 14 Jahren ging die Schminkzeit los. Es musste schnell gehen. Denn, wenn die Mutter dich erwischte, musste das Zeug (wie sie es nannte) wieder ab. Hin und wieder hast du mir mit Lippenstift ein Herzchen aufgemalt oder einen Kussmund aufgedrรผckt. Das gefiel mir. Lรคchelnd hast du dann sogar die Strafarbeit deiner Mutter in Kauf genommen. Seit 1983 hast du angefangen, Reden vor mir zu halten und dabei deine Mimik auch zu kontrollieren. Die รbungen waren eine schรถne Abwechslung fรผr mich. Ansonsten habe ich dich immer nur kurz gesehen. Du warst mehr in den Kinderzimmern. Dann kam die Trennung von deinem Mann. Ich hatte sogar Angst um dich. Eingefallene Wangen und innerhalb von fรผnf Monaten 16 Kilo abgenommen. Zum Glรผck kam ja ganz schnell wieder ein Mann an deiner Seite, der dich aufgepรคppelt hat. Jetzt gefรคllst du mir wieder. Auch finde ich es gut, dass du deine Falten Falten sein lรคsst.
Also begrรผรe mich bitte weiterhin jeden Morgen wie gewohnt. Dann bleibe auch ich dir froh gelaunt in den nรคchsten Jahren. Lass dir das von deinem Spiegel gesagt sein.โ
Der Tod gehรถrt zum Lebenย
Fรผr Kinder ist die Erfahrung mit dem Tod ein einschneidendes Erlebnis in ihrem bisherigen Leben.
Anfang der 80er-Jahre ging ich im Sommer mit meiner 3-jรคhrigen Tochter spazieren. Unter einer Hecke entdeckte sie einen toten Vogel. Traurig stand sie da. Ich erklรคrte ihr, dass alte Tiere halt sterben. โSonst wรคre doch die Welt eines Tages mit Tieren รผberfรผllt.โ sprach ich. Das verstand sie. Hat sie doch schon oft im Groรen Garten Entenmรผtter mit ihren vielen kleinen Kรผken beobachtet. Am nรคchsten Tag gingen ihre Gedanken weiter. โSterben Menschen auch?โ fragte sie. โJaโ antwortete ich. Schnell holte ich das Fotoalbum aus dem Schrank. Auf einem Foto war meine Tochter im Alter von vier Wochen auf dem Arm ihrer Uromi. Leider ist diese sieben Monate spรคter verstorben. โSie ist sehr alt geworden und hatte ein glรผckliches Leben.โ beruhigte ich meine Tochter. Wissentlich verschwieg ich, dass diese Frau leider zwei Weltkriege erleben musste und zum Schluss Krebs hatte. Es gab ja noch zwei lebende Uromas.
Zwei Tage spรคter waren wir wieder an der frischen Luft. Ihre kleine Schwester schlief friedlich im Kinderwagen. Mit einer 3-Jรคhrigen kommt man nicht so schnell vorwรคrts. Vor uns lief ein รคlterer Herr mit seiner Gehhilfe. Auch er war nicht schnell. Plรถtzlich musste meine Tochter ihre Gedanken loswerden. โAls erstes stirbt die eine Uroma, dann die andere.โ erklรคrte sie laut. Sie wusste zwar nicht das Alter der einzelnen Familienmitglieder, jedoch die altersgerechte Reihenfolge war ihr bekannt. โZuerst stirbt die eine Uroma, dann die andere, dann der Opi und dann die Omi. Ach nein. Zuerst stirbt die eine Uroma, dann die andere, dann der Opi, dann die Oma, dann der Opa, dann die Omi, dann der Papa, dann du Mama und dann ich.โ Sie wusste, dass meine Schwiegereltern meine Eltern vom Alter her einrahmten.
Der รคltere Herr vor uns versuchte schneller zu gehen. Es gelang ihm nicht. โAch neinโ fing meine Tochter erneut an. Ihr fiel inzwischen noch mein Bruder ein. Er musste noch in der Reihenfolge eingebaut werden. Der Herr vor uns hustete gekรผnstelt. Meine Tochter bemerkte dies nicht. Zu stark war sie mit ihren Gedanken beschรคftigt. โAch neinโ sagte sie laut vernehmlich und fing von vorn an. Da gab es doch noch den Bruder ihres Papas. Und ihre kleine Schwester gehรถrte ganz an hinterste Stelle. Sie durfte nicht vergessen werden. Der Herr vor uns knurrte.
Inzwischen fiel meiner Tochter ein, dass sie auch eine Patentante hat. โMutti, wann stirbt sie?โ fragte sie mich. Es war sinnlos, sie auf andere Gedanken zu bringen. Also erklรคrte ich ihr, zwischen welchen Familienmitgliedern ihre Patentante einzugliedern ist. โAlso zuerst stirbtโฆโ Weiter kam sie nicht. Wรผtend drehte sich der Herr vor uns um. Mit hochrotem Kopf fuchtelte er mit seinem Stock in der Luft herum. โJetzt hรถre mal mit deiner Sterberei auf.โ schrie er meine Tochter an, โdas hรคlt ja kein Mensch aus.โ Vรถllig verstรคndnislos sah meine Tochter den Herrn an. Was hatte sie nur falsch gemacht?
Ich machte dem Herrn einen Vorschlag. โBleiben sie doch mal eine Weile stehen und holen tief Luft. Ich werde sie derweil รผberholen. Wenn sie sich etwas erholt haben, kรถnnen sie ihren Weg fortsetzen. Ich bin dann weit genug weg. Fรผr meine Tochter gehรถrt der Tod nun einmal zum Leben und fรผr mich รผbrigens auch.โ erklรคrte ich ihm. Gesagt, getan. Und der Tag war fรผr beide Seiten gerettet.
Leider hielt sich der Tod spรคter nicht an diese vorgesetzte Reihenfolge.
Die Spinne
Von Kindesbeinen an bin ich tierlieb. Mit fรผnf Jahren habe ich einmal auf einer Kleintiermesse ein schlachtreifes Kaninchen mit einem kleinen Stall dazu gewonnen. Liebevoll pflegte ich es auf dem Balkon. Eines Tages war die Tรผr der kleinen Box offen und mein Kaninchen weg. โBestimmt ist es vom Balkon runtergesprungen und davon gehoppeltโ, sagten meine Eltern, โKaninchen รผberleben den Sprung.โ In Wirklichkeit habe ich es am Sonntag mit verspeist.
Spรคter, und bis heute, liebte und liebe ich Schlangen und Spinnen. Besonders Vogelspinnen haben es mir angetan. Deren Vielfalt und Beweglichkeit, sowie ihr gesamtes Leben faszinieren mich.
In meiner Wohnung wird keine Spinne getรถtet, sondern auf den Balkon entlassen. Eine Zeitspanne lang hat mich jeden Morgen im Bad ein Weberknecht besucht. Ich fand es schรถn. Eines Tages war er verschwunden.
Nach der Wende wurden im Gorbitzer Plattenbau vielerorts die Bรคder saniert. In den Schรคchten wurden neue Wasserleitungen nebst Wasseruhren eingebaut. Allerdings eine neue Badewanne oder/und Waschbecken hรคtte man selber bezahlen mรผssen. Man konnte sich dann sogar die Farbe aussuchen. Hat aber in unserem Haus kein Mieter gemacht.
Nachdem die Handwerker abgezogen waren, hรถrte ich es am nรคchsten Morgen im Schacht leicht plรคtschern. Nach einem Anruf kam auch bald ein Handwerker vorbei. Es war ein รคlterer Herr. Er steckte seinen Kopf in den Schacht und schimpfte laut: โWer hat diese Spinne in den Schacht gesetzt?โ Das ging mir zu weit. Ich bemรผhe mich ja um Sauberkeit in meiner Wohnung, aber alles ist nicht machbar. โVielleicht kรผmmere ich mich noch um Spinnen im Schacht.โ fauchte ich zornig zurรผck. Er zog seinen Kopf zurรผck und schaute mich ganz verdutzt an. Schnell begriff er, dass ich eine ausgesprochene technische Niete bin. Er zeigte mir, dass das Gewirr von Schlรคuchen, die von der Wasseruhr abgingen, Spinne genannt wurde. Diese war nicht fachgerecht eingesetzt worden. Wieder war ich eine Erfahrung reicher. Auรer meinen geliebten Achtbeinern gibt es also auch noch andere Spinnen.
Das falsche Geburtstagsgeschenk
Im Mรคrz 1998 wurde mein Sohn elf Jahre alt. Im Vorfeld wollte sein 8-jรคhriger Bruder ihm eine Freude bereiten und von seinem Taschengeld ein kleines Geschenk besorgen. Ich war sehr gerรผhrt und gab ihm noch ein wenig Geld dazu. Aufgeregt ging er allein in den nahe gelegenen Supermarkt. Er wusste, dass sich sein รคlterer Bruder auf der einen Seite fรผr Computer interessierte, und fรผr Marzipan hatte er ebenfalls eine Vorliebe.
Stolz kam er von seinem Einkauf zurรผck und prรคsentierte mir seinen Einkauf nebst Kassenbon. Entsetzt starrte ich auf das Geschenk. In einer, mit knisternden Klarsichtpapier versehenen, Verpackung befand sich ein aus Marzipan geformter Minicomputer. Daneben war eine kleine Flasche Pflaumenschnaps (0,1 l). Ich fragte meinen Sohn, ob die Kassiererin nichts gesagt hรคtte. โDochโ, antwortete mein Sohn, โSie wollte wissen, fรผr wen ich das kaufe. Ich sagte ihr, dass es ein Geburtstagsgeschenk fรผr meinen รคlteren Bruder ist.โ Ich war wรผtend. Sofort nahm ich das Geschenk nebst Kassenbon und meinen Sohn und ging zum Supermarkt. Dort verlangte ich nach dem Leiter. Es war ihm sichtbar peinlich. Er konnte es auch nicht verstehen. Ein Lehrling hatte nicht aufgepasst. Wir bekamen das Geld zurรผck und mein Sohn noch eine kleine Tรผte Gummibรคrchen als Entschuldigung obenauf. Nun kauften wir ein angemessenes Geschenk.
Ich denke, hinter geschlossenen Tรผren wird die Geschichte fรผr den Lehrling noch ein Nachspiel gehabt haben.
Der Zoo im Auto
Vor allem Mรคnner lieben ihre Autos. Sie werden ausgiebig und intensiv gehegt und gepflegt. Oft sogar mehr als die eigene Frau oder Freundin. Hinter ihrem Lenkrad fรผhlen sie sich pudelwohl. Sie kennen die Verkehrsregeln und verhalten sich auch meistens rรผcksichtsvoll. Nur wehe, vor ihnen springt die Ampel plรถtzlich von gelb auf rot. โWelches Rhinozeros hat diese Ampel programmiert! Diesem Rindvieh will ich mal die Leviten lesen.โ Solche oder รคhnliche รuรerungen lassen da nicht lange auf sich warten. Selbst, wenn Kinder im Auto sitzen. Bei guter Laune halten sie auch den Sicherheitsabstand zum Vordermann ein. Vorbildlich. Nur sind nicht alle so. Oft springt ein anderer in diese Lรผcke. โDu Lackaffe, du Hornochse, Kamel! Mit dir werde ich noch Schlitten fahren.โ Das Schimpfen nimmt dann manchmal kein Ende. Ausgerechnet diese Mรคnner springen ebenfalls mit ihrem Auto in den Sicherheitsabstand eines anderen Autofahrers hinein. Freudestrahlend und mit einem Seitenblick wird die Beifahrerin gefragt: โNa, wie habe ich das gemacht?โ โSo, dass hinter uns jetzt der Zoo offen istโ, lautet die Antwort.
Lรผgen haben kurze Beine
17 Jahre spรคter war mein jรผngster Sohn acht Jahre alt. Er bestand darauf, seine tรคgliche Kรถrperpflege ohne mรผtterliche oder vรคterliche Aufsicht zu erledigen. Abgemacht. Im Hintergrund passte ich schon auf, dass er nicht nur das Seifentuch oder die Zahnbรผrste anfeuchtete. Eines Tages kam er mit Hautausschlag zu mir. Mein Gehirn fing an zu โratternโ. Hatte ich Sรผdfrรผchte gekauft, die vielleicht gespritzt waren? Welche Kinderkrankheit hatte er noch nicht? Beobachten war meine Devise.
Zweiย Tage spรคter fragte mich sein Papa, ob ich sein Duschgel benutze. โEs ist auf einmal so schnellย alle.โ โDu weiรt genau, dass ich diese Produkte รผberhaupt nicht vertrage.โ entgegnete ich. Gleichzeitig kam mir ein Blitzgedanke. Ich fragte meinen Sohn. โSag mal, benutzt du Papasย Duschgel?โย Mit erhobenem Hauptย und fester Stimme meinte er: โDas wรผrde ich mir nie wagen.โ โWeiรt du, ich vertrage nรคmlich dieses Duschgel nicht. Ich bekomme dann juckenden Hautausschlag. War ja nur so ein Gedanke von mir. Aber da ist ja alles gut. Du kannst wieder in dein Zimmer gehen.โ sprach ich. Mit zusammengekniffenen Lippen verschwand er. Zwei Minuten spรคter war er wieder da. Leise undย mit gesenktem Kopfย verkรผndete er: โIch war es.โ Der Hintergrund war schnell geklรคrt. Er wollte kein Kinderduschgel oder -bad mehr verwenden. Wir einigten uns, dass er die fast leere Flasche vรถllig entleerte. Noch in derselben Woche gingen wir gemeinsam einkaufen. Er suchte sich ein Gel raus, was seiner Meinung nach von der Aufmachung cool aussah und mรคnnlich roch. Ich studierte die Inhaltsstoffe. So konnten wir uns schnell einigen, der Ausschlag verschwand und das Problem war aus der Welt geschafft.
Spiegelung des Verhaltens oder Wie erziehe ich einen Mann
Manchmal – aber nur manchmal – hat man den Eindruck, dass einige Mรคnner in der Steinzeit stehen geblieben sind. Je รคlter sie werden, desto grรถรer wird das Verlangen ihren Marktwert vorrangig bei jรผngeren Frauen zu testen. Auch ich habe so ein Exemplar erwischt. Selbst in meiner Gegenwart schaute er unverhohlen auf offener Straรe jรผngeren Damen hinterher. Als er wieder einmal eingehend den Hintern einer vor uns laufenden Frau studierte, fragte ich ihn von der Seite: โNa, ist dieses Gesรคร genehm?โ โGeht soโ, knurrte er nur. ‚Na warte mein Liebling,‘ dachte ich.
‚Du bekommst deine Lektion!‘ Ich wusste auch schon wie. Mein Vergnรผgen wollte ich ja auch haben. Dazu nutzte ich eine Eigenschaft vieler Mรคnner. Sie haben ein schlechtes Personengedรคchtnis. War ich mit meinem Freund unterwegs und es kam uns ein gutaussehender Mann, in meinem Alter entgegen, grรผรte ich ihn. Welch eine Freude! Ich konnte fรถrmlich die Gedanken hinter der Stirn lesen. ‚Kenne ich diese Frau? Ist es vielleicht eine Freundin meiner Frau. Ich will keinen รrger.‘ So oder รคhnlich haben bestimmt alle gedacht. Freundlich und hรถflich grรผรte jeder zurรผck. Irgendwann fragte mich mein Freund: โSag mal, woher kennst du die Mรคnner?โ โGar nichtโ, war meine Antwort. โAber sympathisch sehen sie doch aus, oder?โ Er begriff sofort. Ab diesem Zeitpunkt schaute er anderen Frauen nicht mehr hinterher. Zumindest nicht in meiner Gegenwart. Und das genรผgt mir.
Der Punkt
Wieder einmal war es soweit. Omas Hausmittel halfen nicht mehr. Auch das Internet brachte keine neuen Erkenntnisse. Das Braun am unteren Teil des Duschvorhanges blieb hartnรคckig. Ein neuer musste her. Durch Zufall hatte der Supermarkt am gleichen Tag meiner Feststellung welche im Angebot. Auf dem ersten wieherte mich ein Zebra an. Nein, danke! Ich weiร selber, dass ich keine 16, sondern 61 Jahre alt bin. Der zweite zeigte mir die Lรคnder der Erde auf. Wenn ich beim Duschen den Vorhang intensiv betrachte und das Wasser laufen lasse, wird es teuer. Doch der dritte gefรคllt mir. In abstrakter Darstellung schweben angedeutete Pusteblumen gen Himmel. Das Ganze ist in blau und grรผn gehalten. Am unteren Ende dunkelgrรผn. Prima. Zu Hause hรคnge ich ihn schnell auf, ehe die Familie kommt. Aber, was ist das?! Auf halber Hรถhe befindet sich ein brauner Punkt von etwa 5 mm Durchmesser. Kein Loch, kein Riss, nur ein brauner Punkt. Gut, bei Batikarbeiten ist im Vorfeld auch nicht das Ergebnis vorherzusagen. Es ist halt mein Duschvorhang.
Wie รผblich, verschwindet mein Sohn nach seinem Erscheinen sofort im Bad. Gleich danach erklรคrt er mir: โDen Duschvorhang musst du reklamieren.โ โNeinโ, sagte ich. Er winkte ab und ging mit den Worten: โMit dir darรผber zu reden, ist sinnlos.โ in sein Zimmer. Abends geht mein Freund nach getaner Arbeit duschen. Plรถtzlich fliegt die Badtรผr auf. So, wie Gott ihn schuf, stand er halb drinnen, halb drauรen. โHast du den Punkt schon gesehen?โ, fragte er mich. Verschmitzt lรคchelte ich. โVon welchem Punkt sprichst du?โ Er verdrehte die Augen und verschwand wieder im Bad.
Am Wochenende kam Besuch. Es dauerte nicht lange und mein Duschvorhang erรถffnete eine heftige Debatte. Wann sollte man was reklamieren? Wann verlohnt es sich? Sollte man Kleinigkeiten hinnehmen, vielleicht sogar selbst reparieren, wenn man dazu in der Lage ist? Bei der heutigen Massenproduktion wird so viel Ausschuss produziert. Die Mรผllberge werden immer hรถher. Sollte man tiefer in die Tasche greifen und auf solide Handwerkskunst setzen? Aber auch da hat man keine 100 % Garantie.
Am Abend verabschiedeten sich alle mit den Worten: โEs war ein interessanter Tag mit vielen Anregungen.โ
Ein paar Tage spรคter fand unser Mรคdelsabend bei mir statt. Fรผnf ehemalige Freundinnen haben sich stets viel zu erzรคhlen. Als die Erste aus dem Bad kam, kommentierte sie: โToll, dein neuer Duschvorhang. Aber, er hat einen Punkt.โ Sofort sprangen die anderen Drei auf und rannten ins Bad. Wieder da, meinte unser Temperamentbรผndel: โDas ist wieder typisch fรผr dich. Unsereins wรผrde sich รคrgern und aufregen. Aber du nimmst es gelassen.โ Die Nรคchste sann so vor sich hin: โEigentlich haben wir doch im Laufe unseres Lebens gelernt, bei unseren Mรคnnern รผber Dinge hinweg zu sehen, die wir sowieso nicht mehr รคndern kรถnnen. Da ist so ein Punkt eine Lappalie.โ
Und ich saร still in meiner Sofaecke und freute mich schon auf meinen nรคchsten Besuch.
Die Kuckucksuhr
Zum Anlass der Goldenen Hochzeit gibt es genug Witze. Einer ist mir besonders im Gedรคchtnis geblieben: Ein frisch vermรคhltes, junges Ehepaar fรคhrt in die Flitterwochen. Der Ehemann interessiert sich in seiner Freizeit fรผr Vogelstimmen. In einem Schaufenster sehen sie eine Kuckucksuhr. Verliebt schaut sie hin und denkt an ihn. Da hรคtte er den Kuckucksruf sogar zu Hause. Er schaut sie von der Seite an. Die Uhr findet er hรคsslich, kauft sie aber ihr zuliebe. Nach 50 Jahren ist diese defekt. Er versucht sie zu reparieren, was ihm nicht so gelingt. Er flucht: โDiese hรคssliche Uhr!โ Sofort erwidert sie: โWegen dir haben wir sie doch gekauft.โ Er: โWas, nein!โ
Als ich meinen Freund kennenlernte, lernte ich auch seinen Kumpel kennen. Bei ihm zeigte er mir den groรen Fรคcher an der Wand รผber dem Sofa. Ihm gefiel er. Ich kaufte einen รคhnlichen, nur nicht in schwarz und lila gehalten, sondern farbenfreudig. Das war ihm zu viel Farbe. Also legte ich den Fรคcher auf den Schrank. Monate spรคter hatte ich einen wichtigen Termin. Als ich nach Hause kam, hing รผber dem Sofa der Fรคcher an der Wand. Mein erster Gedanke war sofort: Das ist unsere Kuckucksuhr! Inzwischen haben wir unsere Stube anders gestaltet und der Fรคcher liegt wieder auf dem Schrank. Entsorgen werde ich ihn nicht. Beim Frรผhjahrs- oder Herbstputz entstaube ich ihn und denke an die Kuckucksuhr. Immerhin sind wir nun fast 25 Jahre zusammen. Weitere kommen hoffentlich hinzu. Bis heute weiร er nichts von meinen Gedanken. Irgendwann werde ich ihm die Geschichte mal erzรคhlen.
Die goldenen Zwanziger
Wir schreiben das Jahr 2020. Oft wird dieser Beginn eines neuen Jahrzehnts mit den zwanziger Jahren vor 100 Jahren verglichen. Jeder weiร รผber den damaligen Wirtschaftsaufschwung Bescheid. Das Tanzbein wurde reichlich geschwungen und ausgiebig gefeiert.
Mein Opa ist 1899 auf die Welt gekommen und meine Omi 1903. Beim Tanzen lernten sie sich 1923 kennen. Natรผrlich unter Aufsicht ihrer Eltern, meiner Urgroรeltern. Diese gehรถrten der Mittelschicht an. Gegen eine Heirat hatte keiner etwas einzuwenden. Der Termin wurde festgelegt und alles vorbereitet. Anfang September 1924 war es dann soweit. Am Abend vorher fand, wie damals รผblich, der Polterabend statt. Um Mitternacht kehrte das Brautpaar die Scherben zusammen. Die Braut ging danach schlafen, wรคhrend der Brรคutigam noch intensiv mit Freunden feierte.
Am nรคchsten Morgen wartete die Braut festlich geschmรผckt mit den Gรคsten vor der Kirche. Die Glocken lรคuteten schon. Wer noch fehlte, war der Brรคutigam. Freunde wurden ausgesandt, um ihn zu holen. Niedergeschlagen kamen sie zurรผck. Trotz intensiver Bemรผhungen gelang es ihnen nicht, den Brรคutigam zu wecken. Er schlief seinen Rausch aus. Wรผtend raffte die Braut ihre Rรถcke. Und mit den Worten: โNun erst recht, jetzt muss er ran.โ, verschwand sie.
Vier Wochen spรคter gelang die Hochzeit und immerhin waren meine Groรeltern fast 50 Jahre glรผcklich und zufrieden verheiratet.
Ich hรคtte genauso,ย wie meine Omi,ย gehandelt. Die Gene leben weiter. Auch, wenn ich nun schon 62 Jahre alt bin, mal sehen, was die zwanziger Jahre dieses Jahrhundertsย fรผr michย bereithalten.
Die Henne und das Ei
Nein, es geht hier nicht darum, wer zuerst da war. Die Frage bleibt ewig umstritten. Auch die Tatsache, dass manche Hรผhner braune und andere weiรe Eier legen, spielt hier keine Rolle. Vielmehr geht es darum, wie legt die Henne das Ei.
Zum Wochenende gibt es bei mir fรผr jeden zum Frรผhstรผck ein Ei. Jeder hat seinen Eierbecher. Die Eier koche ich im Eierkocher in der Kรผche. Anschlieรend stelle ich sie in die Eierbecher. Selbstverstรคndlich so herum, wie sie im Eierkocher waren. Die spitze Seite gehรถrt bei mir nach oben. Nach meinem Verstรคndnis legt die Henne ihr Ei mit der runden Seite zuerst ins Nest. Mein Freund dreht sein Ei stets um. Er behauptet, die Henne legt ihr Ei genau andersherum. Und so mรถchte er auch das Ei im Eierbecher. Er freut sich immer auf Ostern. Die bunt gefรคrbten Eier stehen in einem Extra-Kรถrbchen auf dem Tisch. Jeder darf sich eins aussuchen.
Ich sprach mit meinem Sohn รผber dieses Thema. Er fand diese Frage albern. โKindlichโ war sein Kommentar. โAchโ, konterte ich. โDie Frage deinerseits, ob ich das Klopapier zerknรผlle oder falte, ist wohl hoch wissenschaftlich?โ Damals kam ich ihn mit der Gegenfrage: โVorher oder nachher?โ Er gab sich geschlagen.
Schlieรlich schickte er mir zwei kleine YouTube-Clips. Im ersten legte das Huhn deutlich sichtbar die runde Seite zuerst. Wie freute ich mich schon. Doch im zweiten YouTube-Clip hatte das Huhn es sich genau andersherum รผberlegt. Also bleibt diese Frage ungeklรคrt. Auch Loriot hat dieses Problem nicht erรถrtert.
Aber letztendlich ist es egal, wie herum das Ei im Eierbecher steht oder die Henne es legt. Hauptsache es schmeckt.
Anordnung zur Coronaย –ย Schutzimpfung
Besonders fรผr รคltere Menschen war der Ausbruch der Corona-Pandemie im Mรคrz 2020 schwer verstรคndlich. Wie sollten sie das auch verstehen. So etwas hatte bisher noch keiner erlebt.
Besonders in den Alten- und Pflegeheimen gab es schwere Verlรคufe dieser Krankheit bis hin zum Tod. Alle mussten isoliert werden und vereinsamten. Gegen Ende des Jahres kam endlich Impfstoff auf den Markt.
Mein 87-jรคhriger Vater verglich am Anfang die Krankheit mit einer starken Grippe. Er erzรคhlte stets allen, dass er als Kind ein paar Wochen mit einer heftigen Grippe im Bett lag. Nach seiner Genesung erklรคrte der Kinderarzt, dass er nun ein Leben lang immun sei. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass es dieses Mal anders ist. Aber gegen eine Impfung war er weiterhin. Eines Tages meinte er plรถtzlich: โWenn ich zur Impfung aufgefordert werde, komme ich dem nach. Man muss ja schlieรlich seiner Bรผrgerpflicht nachkommen.โ Das war der Durchbruch! Mein 31-jรคhriger Sohn hatte eine Idee. Er organisierte im Internet einen Impftermin fรผr seinen Opa. Leider war nur in Pirna etwas frei. Abends kam er zu mir und druckte alles in Farbe aus. Anschlieรend steckte er die Aufforderung in einen DIN A4 Umschlag. โDeine Handschrift kennt er.โ meinte er. Er schrieb mit Druckbuchstaben das DRK als Absender darauf. Auรerdem ordnungsgemรคร die Anschrift meines
Vaters. Ich wand ein, dass sein Opa die fehlende, abgestempelte Briefmarke bemerken wird.ย โDasย merkt er nichtโ erwiderte er. โIch stecke den Umschlag noch heute Abend in seinen Briefkasten.โ Am nรคchsten Morgen rief mich mein Vater an. โIch habe Post bekommen. Im Februar soll ich zum Impfen nach Pirna. Wie komme ich dorthin?โ โKeine Angstโ sagte ich. โIch rufe deinenย Enkel an, er hat ja ein Auto.โ Mein Sohn rief abends seinen Opa an. โIch habe gehรถrt, du hast eine Aufforderung zum Impfen bekommen. Ich organisiere den Transport.โ Mein Vater bekam seineย zweiย Impfungen. Noch heute wundert er sich nur, dass er nicht in Dresden, sondern in Pirna geimpft wurde.
Gedanken zum 40. Jahrestag der Grundsteinlegung fรผr das Neubaugebiet Dresdenย –ย Gorbitz
Am 21. August 1981 war es endlich soweit. Die Medien feierten das Ereignis gebรผhrlich. Und auch die Dresdner waren hocherfreut. War doch die Wohnungsnot in der DDR allgemein bekannt. Das kurz zuvor entstandene Neubaugebiet im Stadtteil Prohlis reichte nicht aus. Ein noch grรถรeres sollte entstehen.
Auch wir, mein Mann und ich, waren auf Wohnungssuche. Durch die Geburt unserer Tochter 1980 ist unsere Familie gewachsen.
Nur, wie sah es damals in der DDR aus? Die wenigen Wohnungen, die zur Verfรผgung standen, wurden zentral oder durch die betrieblichen Wohnungskommissionen vergeben.
Dies lief รผber ein kompliziertes Dringlichkeitsverfahren. Als Ledige hatte man da kaum Chancen. Trotzdem stellte fast jeder mit 18 Jahren einen Wohnungsantrag, denn die Wartejahre spielten auch eine Rolle. Auch ich ging genau an meinem 18. Geburtstag in meinem Ausbildungsbetrieb zur Wohnungskommission und stellte einen Antrag auf eigenen Wohnraum.
Als ich im Juni 1975 meinen spรคteren Mann kennenlernte, wohnte er noch bei seinen Eltern und ich bei meinen. Beide hatten wir noch einen jรผngeren Bruder, mit dem wir uns ein Zimmer teilen mussten. Der Wohnungsantrag meines damaligen Freundes lief bereits zwei Jahre. Er war halt zwei Jahre รคlter. Im Mรคrz 1976 hatte er das Glรผck, dass er in Freital โ Deuben in einem Privathaus eine kleine 2-Raum-Dachgeschosswohnung ohne Bad und mit Plumpsklo auรerhalb der Wohnung beziehen konnte. Da das Dach kaputt war, war die Wohnung nass. Das Schlafzimmer war bereits baupolizeilich gesperrt. Eine Auรenwand war bereits schwarz vor Schimmel. Im Erdgeschoss des Hauses wohnte seine Oma. Leider verstarb sie im September des gleichen Jahres.
Mein Freund wollte nicht, dass ich zu ihm ziehe. Er war Student, wollte seine Ruhe fรผr das Studium, wie er betonte. Also blieb ich bei meinen Eltern wohnen. Erst nach der Hochzeit im August 1979 zog ich zu meinem Mann. Der Privatbesitzer hatte ein Jahr zuvor das 6-Familienhaus an die KWV (kommunale Wohnungsverwaltung) verschenkt.
Der Zustand des Daches wurde immer schlimmer und dadurch die Wohnung immer feuchter.
Unsere Tochter kam mit sechs Monaten in die Kinderkrippe. Bedingt durch den schlechten Zustand der Wohnung wurde sie oft krank. Manchmal sogar zweimal monatlich. Der Betrieb legte mir nahe, sie krippenunfรคhig schreiben zu lassen. Zum Glรผck war die Kinderรคrztin dagegen und empfahl in einem Schreiben an den Betrieb, uns eine trockene Wohnung zu versorgen. Auch die Jugendfรผrsorge (heute Jugendamt) reagierte รคhnlich. Nichts half. Im September 1981 gingen wir absichtlich nicht zur Kommunalwahl. Wir warteten, bis es an unserer Wohnungstรผr klingelte. Man versprach uns zu helfen und wir steckten den Zettel in die Wahlurne. Nur tat sich danach wieder nichts. Also musste aus unserer Sicht die Dringlichkeit durch eine weitere Schwangerschaft erhรถht werden. Das half. Im Juni 1982 erhielten wir die Zuweisung fรผr eine 4-Raum-Wohnung ohne Balkon im neu entstehenden Neubaugebiet Gorbitz. Die Freude war groร.
Die AWG – Anteile (Arbeiter-Wohnungs-Genossenschaft) von 2400 Mark waren bereits bezahlt. Die geforderten Arbeitsleistungen von 850 Stunden hatten wir mit 375 Stunden teilweise geleistet.
Mein damaliger Mann arbeitete im VTKD (Verkehrs- und Tiefbaukombinat Dresden). Der Betrieb war beim Aufbau von Gorbitz mit beteiligt. Dadurch hatten wir die Mรถglichkeit, die restlichen 475 Stunden in Wohnnรคhe abzuleisten. Wir kรผmmerten uns mit um den Anstrich der neuen Brรผckengelรคnder รผber den Gorbitzbach. Dabei konnten wir auch gleich die geforderten VMI – Stunden (Volkswirtschaftliche Masseninitiative) in Hรถhe von zehn Stunden pro Jahr mit absolvieren.
Auรerdem mussten wir noch 40 Mark fรผr die Wannenverkleidung und 116 Mark fรผr ein 2.ย Waschbecken in der Diele bezahlen. Dieses war in grรถรeren Wohnungen gleich eingebaut.ย
Endlich hatten wir eine trockene Wohnung mit Bad nebst Wanne und flieรend warmes Wasser aus der Wand. Wir waren รผberglรผcklich. Der fehlende Balkon stรถrte uns gar nicht. Als wir das erste Mal unser groรes Wohnzimmer betraten, fanden wir in der Mitte des Zimmers, schรถn zusammengefaltet, die DDR-Fahne vor. Sie sollte an den Feiertagen, wie 1. Mai und 7. Oktober (Grรผndung der DDR), straรenseitig aufgehangen werden. Keiner im Haus kam dieser Aufforderung nach. Als wir im Januar 1990 aus der Wohnung auszogen, legten wir diese wieder dorthin, wo wir sie vorgefunden hatten.
Wie alle nahmen wir am Anfang den Dreck und Staub auf der Straรe und im Hof in Kauf. Es gab weder Bรคume noch Wiese. Nur Bauschutt, Kies und Sand. Die Anschaffung von Gummistiefeln war fรผr jeden oberstes Gebot.
Im September 1982 erlebte ich in Gorbitz einen Sandsturm. Zum spรคten Nachmittag bahnte sich ein Sommergewitter an. Dunkle Wolken erschienen am Himmel. Wie so oft kรผndigte vorher ein heftiger Sturm das folgende Gewitter an. Da Bรคume und Wiese noch fehlten, hatte der Wind breite Angriffsflรคche. Ich wohnte in der Braunsdorfer Straรe in der vorletzten Etage. Zum Glรผck schloss ich rasch die Fenster. Nur wenig spรคter konnte ich das Haus vom Asternweg gegenรผber nicht mehr erkennen. So sehr wirbelte der Sturm Bauschutt, Kies und Sand in die Hรถhe. โIch muss nicht in die Wรผste reisen, um einen Sandsturm zu erleben. Das habe ich in Gorbitz auch.โ war mein Kommentar dazu.
Heilig Abend 1982 wurde unsere 2. Tochter geboren. Alles war perfekt.
Im Frรผhjahr 1983 wurde endlich Mutterboden angefahren, Gras gesรคt und Bรคume gepflanzt. Jetzt im Jahr 2021 sind die Bรคume schรถn groร und dienen als Schattenspender und fรผr Vรถgel als Nistplatz. Die Kinder haben viel Raum zum Spielen und Erwachsenen kรถnnen auf dem Rasen ein Sonnenbad nehmen und abends grillen.
Im Winter dienen die ehemaligen, inzwischen begrรผnten und bepflanzten Schuttberge in den Innenhรถfen den Kindern als Rodelberge.
Meine sechs Kinder sind in Gorbitz in die Schule gegangen und groร geworden. Fรผr mich persรถnlich ist es das grรถรte Glรผck, dass ich in Gorbitz die Liebe meines Lebens gefunden habe. Ich bin so froh und dankbar darรผber.
Gorbitz ist ein attraktiver Stadtteil geworden. Die Wohnungen wurden nach der Wende nach und nach saniert. Kulturell gibt es fรผr alle Altersklassen vielseitige Angebote. Sogar Sportplรคtze fรผr Senioren wurden errichtet. Viele Organisationen, Vereine und Initiativen sind in Gorbitz sesshaft geworden. Wer will, kann jederzeit aktiv an der Gestaltung seines Wohngebietes mitwirken. Die Mรถglichkeiten sind vielfรคltig. Ich fรผhle mich hier wohl und mรถchte das Wohngebiet nicht mehr verlassen.
Persรถnliche Erinnerungen an DDR-Leben und Geschichten mit DDR-Bezug
Unsere Erinnerungs-Bibliothek darf weiterwachsen. Habt Ihr ebenfalls Erinnerungen an das Leben in der DDR oder Geschichten mit DDR-Bezug, die Ihr hier verรถffentlichen mรถchtet? Gerne kรถnnt Ihr uns diese per E-Mail (info@kulturaktiv.org) oder per Post (Kultur Aktiv e.V., Bautzner Straรe 49, 01099 Dresden) zuschicken.
Das Projekt Treffpunkt ostZONE. Erinnern und gestalten wird gefรถrdert durch das House of Resources Dresden +. Diese Maรnahme wird mitfinanziert mit Steuermitteln auf Grundlage des vom Sรคchsischen Landtag beschlossenen Haushaltes im Rahmen des Landesprogrammes Integrative Maรnahmen.

