Maria Magdalena Verburg: Heimatmusik

Das Licht im Saal ist gedämpft, nur die Bühne hell erleuchtet. Im Scheinwerferlicht sitzen zehn Bandoneon-Spieler, dahinter warten sieben Violinen, Kontrabass, Tuba und Klavier auf ihren Einsatz: das „Gran Orquesta Carambolage“, 20 Musiker aus Dresden und Umgebung. Vorne mittig sitzt Jürgen Karte. Er ist Orchester-Leiter und Spieler des ersten Bandoneons. Sein Instrument hält er an zwei viereckigen Stirnstücken aus dunkel lackiertem Holz; unter den Händen je eine Griffleiste, darüber eine Lederschlaufe. So sind die Finger frei für die Tastatur. Die perlmutternen Knöpfe schimmern je nach Einfallswinkel des Lichtes mal rosa, mal gelblich, mal in zartem Blau.

Jürgen Karthe zieht die Stirnstücke auseinander, entfaltet dadurch den Balg zu einer Schlange aus rot-orange marmoriertem Papier von über einem Meter Länge, und drückt ihn dann wieder zusammen. Im Balg entsteht erst ein Unter-, dann ein Überdruck; Luft wird eingesaugt und herausgepresst. Gleichzeitig betätigt Karthe einzelne Knöpfe und öffnet dadurch Ventile im Inneren des Bandoneons. Der Luftzug bringt Metallzungen unterschiedlicher Größe in Schwingung. So entstehen Töne. Die anderen Instrumente stimmen ein und fluten den Saal mit ihrem Klang. Die Klänge fügen sich zu Tango-Melodien und locken die Menschen auf die Tanzfläche. An die 200 Besucher sind an diesem Samstag-Abend im Januar 2020 in die Dresdner Johannstadthalle gekommen. Eine lange Tango-Nacht beginnt.

Das Instrument in Jürgen Karthes Händen gilt als „Seele“ des Tangos. Es ist das Instrument, das den argentinischen Tanz erst zum Tango macht. Doch seinen Ursprung hat es im Sachsen der 1830er Jahre. Den Tango gab es damals noch nicht, nicht in Argentinien und schon gar nicht in Deutschland. Das Bandoneon war Inbegriff von Heimat und sächsischer Volksmusik; und wurde derart beliebt, dass es sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als „Klavier des kleinen Mannes“ in ganz Deutschland verbreitete.

Ab 1870 gelangte das Instrument mit einer europäischen Auswanderungs-Welle nach Argentinien: An die 57 Millionen Europäer flohen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert vor der Armut in ihren Heimatländern nach Nord-und Südamerika. Ungefähr 6 Millionen von ihnen hatten Buenos Aires zum Ziel. Vor allem Italiener und Spanier aber auch viele polnische, englische und deutsche Wirtschaftsflüchtlinge suchten dort ihr Glück. In Buenos Aires prallten ihre Kulturen aufeinander und vermischten sich ihre Lieder und Tänze: So entstand der Tango Argentino. Der Beitrag der Deutschen war das Bandoneon.

Doch während der Tango und mit ihm das sächsische Instrument in Buenos Aires zwischen 1930 und 1955 boomte, wurde es in Deutschland im Lauf der Jahrzehnte vergessen. Erst ab 1990 kehrte das Bandoneon über eine weltweite Tango-Begeisterung zurück in die Heimat: In Sachsen entstand nach dem Ende der DDR eine lebendige Tango-Szene. Ob in Bautzen, Görlitz oder Plauen, Chemnitz, Leipzig oder Dresden, überall wird heute zu den Klängen des Bandoneons Tango getanzt. Meist kommt die Musik dabei vom Laptop eines DJs. Doch es gibt auch die besonderen Abende mit Live-Musikern: wie dem Gran Orquesta Carambolage.

Mehr zum Bandoneon aus Sachsen in „Sächsische Heimatblätter“ (2/2020)
https://zkg-dd.de/saechsische-heimatblaetter


„Heimatmusik“ ist ein bürgerjournalistischer Beitrag der Historikerin und Tango-Lehrerin, Weltreisenden und Dresdnerin Maria Magdalena Verburg. Je mehr sie von der Welt sah, desto neugieriger wurde sie auch auf ihre Heimat. Deswegen schreibt sie Reportagen über Dresden und Sachsen. Sie veröffentlichte unter anderem im Bookzin „Stadtluft Dresden“ sowie den „Sächsischen Heimatblättern“ und ist Teilnehmerin der Schreibwerkstatt „Heimat.Heute“. Sachsen im Dialog sah sie als großartige Möglichkeit, weiter an ihren Themen zu arbeiten.