Nachruf auf einen notorischen Kulturaktivisten


Mirko Sennewald ist gestorben. Der Tag war für alle aufgrund seiner schwachen Physis absehbar, und doch ist die plötzliche Abwesenheit eines der hellsten Köpfe in Dresdens Kulturlandschaft unendlich traurig. Wer ihn mochte, dachte nicht daran, dass er sterben könnte: „Er hat so viele Krisen überlebt… warum also gerade jetzt?“ Am vergangenen Sonntag war es aber soweit – seine Krankheit ließ ihm keine Chance mehr. Er wurde 43 Jahre alt.

Nach Tagen der Trauer haben wir gemeinsam die Kraft und die Worte für einen Nachruf gefunden. Einer musste damit beginnen und deswegen ist der Anfang eine persönliche Erinnerung: Kennengelernt habe ich ihn 1997 auf den oberen Hörsaalreihen einer Einführungsvorlesung zur Theorie der Politikwissenschaft. Wir fanden uns auf Anhieb sympathisch – wie das Hinterbänkler so tun – und beschlossen das Semester stattdessen mit eher praktischem Sinnieren über das gute Leben, gute Musik und guten Wein.

Im Ergebnis haben wir uns seit diesen Tagen kaum aus den Augen verloren – dafür war Mirko viel zu präsent in seinem Kiez, der Dresdner Neustadt, und auch viel zu umtriebig. Entweder traf man ihn zufällig bei einer politischen Veranstaltung, las in der Zeitung von einer irren Aktion oder begegnete ihm spät in der Nacht im MONDFISCH, seiner Lieblingskneipe. Fast immer hatte er seine schwarze Kladde dabei – gespickt mit den hunderten gelben Klebezetteln, die seinem Leben Struktur gaben.

Ich habe gerade diese Erinnerung gewählt, weil sie so symbolisch stehen kann: Kennenlernen und Nicht-mehr-aus-den-Augen-verlieren. Denn Mirko war ein geborener Netzwerker. Für jedes Problem gab es jemanden in seinem Telefonbuch, der es lösen konnte. Wundervolle Geschichten dazu sind Legion und fast alle, die jemals mit ihm gearbeitet haben, können davon berichten.

Fotos: Elena Pagel

Als Manager der Dresdner Legende THE ANCIENT GALLERY knüpfte er bereits Mitte der 1990er Jahre erste Kontakte ins osteuropäische Ausland. Als Sprecher des Flower Power Festivals verfeinerte er seinen Umgang mit Politik und Verwaltung, Wirtschaft und Polizei, Kulturschaffenden und Künstlern. Seine freundliche, friedliche und trotzdem selbstbewusste Art öffnete ihm Türen und keine ging je wieder zu.

Bekannt geworden ist er in den Folgejahren vor allem für sein Herzensprojekt, den BRN-LUSTGARTEN. Der wurde zum festen Bestandteil der jährlichen Selbstvergewisserungsfeierlichkeiten in seiner mittlerweile gentrifizierten Stadtteil-Heimat. Dass es den Lustgarten heute nicht mehr gibt ist eine andere Geschichte.

Weniger bekannt sind jedoch Mirkos Aktivitäten für Freiheit und Menschenrechte in den randständigen Regionen Europas. So unterstützte er die Gründung des LIBERAL CLUB in Weißrussland, der bis heute aktiv ist und sich für eine offene Gesellschaft engagiert. Ein weiteres demokratieförderndes Projekt wurde vom belarussischen Geheimdienst verhindert: Bewaffnete Einsatzkräfte umstellten kurzerhand das Konferenzgebäude und beschlagnahmten sämtliche Unterlagen. Doch von solchen „Kleinigkeiten“ ließ Mirko sich nie unterkriegen. Er nutzte weiter seine Reisen nach Weißrussland, um verbotene Webseiten, kopiert auf USB-Sticks, ins Land zu schmuggeln – passwortgeschützt und betreut von einem IT-Spezialisten der TU Dresden. Resultat war irgendwann ein Einreiseverbot, welches ihn aber nicht davon abhielt, sich 2014 unter dem Deckmantel der visafreien Eishockey-WM mit offiziellen Vorrundentickets erneut ins Land zu schleichen.

Viele weitere Tourneen als Manager von Bands wie RADIOPHON, THE UKRAINIANS und MARRACASH ORCHESTRA führten ihn nach Russland, in die Ukraine, nach Transnistrien, Nagorny Karabach oder die ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken. Aus den Erfahrungen und Bekanntschaften mit Künstlern aus den postsozialistischen Staaten wuchs sein Engagement für die weltweit in verschiedenen Formen auftretenden Mikro-Nationen, denen er bei der BRN eine temporäre Heimat bot. Für die REPUBLIK UZUPIS (Litauen) wurde er sogar offiziell zum „Botschafter für Überlebensfragen“. Ja, vom Überleben verstand er wirklich etwas…

Fotos: Elena Pagel

Mirkos Blick auf die Welt war immer global – sein Denken universal. So plante er ein Filmprojekt über Armenier in Syrien, doch der Beginn des Bürgerkrieges machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Rückschläge und Konfrontationen, sei es durch autoritäre Regime oder heimische Dienst-nach-Vorschrift-Beamte, weckten bei ihm umso mehr das Feuer der Entschlossenheit.

Er fand immer Brüder und Schwestern im Geiste, mit denen er als Teil des von ihm mitgegründeten Vereins Kultur Aktiv Journalisten zu Publikationen verhalf, Künstlern zu Ausstellungen und oppositionellen Politikern zu einer hörbaren Stimme. Er brachte mit scheinbar unendlicher Energie den bundesweit bekannten ZUG DER FREIHEIT ins Rollen und verhalf dem deutsch-tschechischen Lustschiff CARGO GALLERY zu Wasser unterm Kiel. Mirko organisierte über fast zwei Jahrzehnte Festivals und Events, die den dringend nötigen Kulturaustausch mit Osteuropa beförderten und die Stadt Dresden, wie auch den Freistaat zu einem dort heute noch gern gesehenen Partner machten.

Im November 2015 erhielt der Berufsquerulant folgerichtig den FÖRDERPREIS DER KULTURSTIFTUNG DES FREISTAATS SACHSEN für seine „innovative und unkonventionelle Projektarbeit in Sachsen und in Mittel- und Osteuropa“. Schon aus diesem Titel konnte man das Fremdeln des Establishments herauslesen. Es gab wohl Niemanden in den regionalen Verwaltungen, dem der langhaarige Lederjackenträger nicht wenigstens ein Mal mit Wünschen abseits von Dienstvorschriften und städtischen Verordnungen auf die Nerven gefallen war. Über den Preis hat sich Mirko trotzdem sehr gefreut, denn nur selten wird Eigeninitiative im subkulturellen Milieu mit höheren Ehren gewürdigt.

Doch um ihn als Person ging es ihm auch damals nicht. Das Preisgeld spendete er. Noch in diesem Frühjahr erhielt Mirko die erstmals verliehene EHRENMEDAILLE der WILHELM-KÜLZ-STIFTUNG für seine „jahrzehntelangen Bemühungen, Dinge anzupacken und nicht so viel darüber zu reden“. Stets zog der „Große Vorsitzende“ des Kultur Aktiv Taten dem langen Diskutieren um Details vor – eine Eigenschaft, die ihm in ihrer Kompromisslosigkeit sowohl Neider als auch Bewunderer einbrachte.

Die Stadt Dresden und der Kultur Aktiv haben einen besonderen Menschen verloren. Einen Macher, der sein engagiertes Außenseitertum ganz in den Dienst der Gemeinschaft stellte. Seine Triebfedern waren weder Geld noch Ruhm. Am Anfang stand meist eine scheinbar verrückte Idee, die er mit allen demokratischen Mitteln auch gegen Widerstände durchzuboxen wusste. Ein „Das ist aber so“ war für ihn nie das Ende der Diskussion.

Der Verein wird in diesem Sinne seine Arbeit fortsetzen, mit dem gleichen Verve, das scheinbar Unmögliche ermöglichen, und aus dem Unwahrscheinlichen Wirklichkeit machen. Das hat Mirko sich gewünscht. An den Schnittstellen von Hoch- und Subkultur, regional wie international, vermittelnd zu wirken und mit der gelegentlichen Prise anarchischen Esprits, seinem Credo „Handeln statt Labern“ gerecht zu werden, ist ebenso unsere Aufgabe wie sein Vermächtnis.

Mirko Sennewald ist in der Nacht zum 12. November 2017 entschlafen. Er hinterlässt einen Sohn, seine Familie und viele gute Freunde.


Danke für all die bisherigen lieben E-Mails, Anrufe und Fragen. Wir haben uns nun entschieden, dafür ein Kondolenzbuch einzurichten, in dem jeder seine Erinnerung an Mirko teilen kann.


Foto: Yuri Mechitov, Tbilisi / Georgien
Mirko mit Sohn und Doreen in der Omayyad Moschee in Damaskus / Syrien während der Vorbereitungsreise für das Filmprojekt / Foto: Holger Wendland
Zurück in Minsk / Weißrussland – bei den Vorrundenspielen der Eishockey-WM / Foto: Holger Wendland
Unterwegs in Tiraspol / Transnistrien / Foto: Holger Wendland
Am Baikalsee / Russland / Foto: Holger Wendland
Den Blick auf Nagorny Karabakh genießend / Foto: Holger Wendland