Sie haben ihre Blindenstöcke dabei, manche sind in Begleitung einer sehenden Person gekommen. In Kooperation mit dem Blinden- und Sehbehindertenverband Sachsen e.V. machen wir uns heute die wichtigste Kirche der Stadt erfahrbar. Denn hier direkt am Marktplatz entstand schon vor ungefähr 800 Jahren mit Entstehung der Stadt auch eine Kirche, die den Stadtbewohnern sehr wichtig war.
Die Erkundung von Kreuzkirche und Umgebung wird begleitet von Anna-Thilo, Gästeführer in Dresden mit viel Erfahrung. Alle Teilnehmenden werden zuerst gebeten, sich mit dem Gesicht genau vor den Haupteingang der Kirche zu stellen. Ich bemerke, das Wort „Gesicht“ hat etwas mit „sehen“ zu tun. Und dann fängt Anna-Thilo an, das Bauwerk so eindrücklich zu beschreiben, dass es auch vorm geistigen Auge entsteht. Toll, was Wörter können.
Zuerst geht es um die Dimensionen. Das ist wichtig, denn wer nicht sehen kann, dem fehlt der Anfangsüberblick. „Wollte man die Kirche mit Pappe nachbauen, müsste man gar nicht groß basteln: Man bräuchte nur einen Schuhkarton mit abgesetztem Deckel. Es folgt nach oben hin der Turm, gekrönt von einem Zwiebelchen mit etwas Restlauch.“ Anstatt mit kunsthistorischen Fachbegriffen zu hantieren, die nur für denjenigen von Wert sind, der bereits eine visuelle Vorstellung davon hat, werden auch die vorgesetzten Säulen und die „korinthischen Säulenkapitelle“ von Anna-Thilo lebhaft beschrieben. „Sie wirken wie mächtige Baumstämme. Oben ist der Stamm glatt abgesägt, aber dank seiner kräftigen Wurzeln schlägt er an der Schnittstelle wieder blattreich aus.“ So eine Beschreibung trifft ins Herz dessen, was sich die christlichen Bauherren bei der Wahl ihrer Symbolik gedacht haben.
Doch um die Dimensionen von großen Bauten zu erfassen, macht es Sinn, Länge und Breite einfach mal abzuschreiten. Langsamen Schrittes bewegen wir uns als Grüppchen an der Außenwand entlang, begleitet von dem Geräusch der Blindenstöcke, von Metall auf Stein, die gegen die unterste Stufe der Treppe klackern. Das gibt auch einem sehenden Menschen ein neues Gefühl für die Tonnen an Gestein, die hier bewegt worden sind. Und dann gehen wir an die Außenmauern auch ganz nah heran. „Das meiste Gestein, das Sie anfassen, steht hier seit über 230 Jahren.“ Die vom Alter stark gedunkelten Gesteinsblöcke stammen aus dem Elbsandsteingebirge. Wir fahren mit den Fingern an der Oberfläche entlang: Sie ist nicht glatt, sondern geriffelt, im Fachjargon „scharriert“. Ob sich ein Unterschied zwischen den alten Quadern und den bei der Restaurierung neu hinzugekommenen, hellen Sandsteinoberflächen ertasten lässt?
Sehr gut ertasten lässt sich jedenfalls das Denkmal zu Ehren von Julius Otto (1804-1877), das seit 2010 rechter Hand vor dem Hauptportal steht. Einige Stufen kann man heraufklettern, um die Bronze-Büste des Kantors und Leiters des berühmten Kreuzchors zu befühlen. Unter seinem überlebensgroßen Gesicht singen vier gegossene Chorknaben in altertümlicher Gewandung aus einem Liederbuch. Anna-Thilo macht uns darauf aufmerksam, dass sich im Liederbuch sogar der Anfang eines Liedtextes ertasten lässt: „Das treue, deutsche Herz“. Was zu Ottos Lebzeiten ein progressives Bekenntnis zur Verständigung zwischen deutschen Kleinstaaten gewesen sein mag, wirkt heute, so ganz ohne Kommentar, ein bisschen bedenklich. Angestoßen von Anna-Thilos Gedanken, lese ich mir den Wikipedia-Eintrag durch. Das ursprüngliche Denkmal aus dem Jahr 1886 und Vorlage für die heutigen Statuen wurde während 1942 zu Kriegszwecken eingeschmolzen, lese ich. So treu schlagen die Herzen deutscher Patrioten also für die deutsche Kultur.
Weiter geht‘s. Große Portale befinden sich an allen vier Seiten der Kirche, und bei einem macht uns Anna-Thilo auf kleine schmiedeeiserne Konstrukte aufmerksam, die rechts und links neben der Tür im Boden verankert sind. Es sind Fußabtreter – aus der Zeit, als Pferdefuhrwerke noch das Stadtbild prägten und der Pferdemist nicht in die Kirche gelangen sollte! Ich hatte diese Schuhabstreifer nie bemerkt – obwohl ich Anna-Thilo und Lydia, stellvertretende Vorsitzende des Blinden- und Sehbehindertenverbandes , sogar in der Woche zuvor bei der Vorbereitung begleiten durfte. Wäre das Metall nicht alt und verrostet, ich hätte schwören können, sie seien in der Woche zuvor noch nicht da gewesen. „Blicken“, hatte Anna-Thilo bei der Vorbereitung mir erklärt, „ist immer eine Bestätigung von dem, was man schon kennt, und deshalb kaum ein Zugewinn. Minutenlanges neugieriges Wahrnehmen, Ertasten, Sehen kann uns dagegen Zugewinn, Erkenntnisgewinn bringen.“
Inzwischen sind wir wieder an der Vorderseite der Kirche angelangt. Anna-Thilo liest den Text einer Gedenktafel vor, die relativ weit oben in die Wand eingelassen ist. Auch diese Tafel ließe sich leicht übersehen. Es ist einer der wenigen Orte in Dresden, die mit großer Deutlichkeit die Verbrechen der Deutschen im Nationalsozialismus benennen. 1933, so liest man dort, haben in Dresden 4675 Juden und Jüdinnen gelebt. 1945 waren es 70.
Den Innenraum der Kirche betreten wir kurz nach dem Glockenschlag um 18 Uhr. Eigentlich ist die Besuchszeit nun zu Ende, aber wir haben das Glück, dass die Kirchgemeinde der Kreuzkirche uns eine Erkundung über die allgemeine Öffnungszeit hinaus ermöglicht und die Frau, welche die Aufsicht übernommen hat, bereit ist, dafür eine Stunde länger zu arbeiten. So können wir uns frei bewegen, ohne über andere Touristen zu stolpern. Wir erfahren, dass die Kreuzkirche, anders als oft kolportiert, bei Kriegsende keineswegs völlig zerstört war. Sie hatte zwar im Inneren schwer gebrannt, aber wesentliche Teile der Jugendstilgestaltung aus der Zeit um 1900 waren erhalten geblieben. Dass der Raum trotzdem so karg und nur der Unterteil des Altars übrig ist, das verdanken wir einem etwas rabiaten Gestaltungswillen in den 50er Jahren. Damals wollte man auch die Wände neu verputzen. Doch die Arbeiten wurden nie abgeschlossen; das Provisorium aus rau und unregelmäßig aufgetragenem Mörtel wurde dauerhaft. Für mich als Sehende wirkt dieser raue Putz von Weitem wie ein flauschiger grauer Teppichbezug. Was für ein großer Kontrast, wenn ich ihn auf Körperhöhe anfasse, wie hart und scharfkantig er ist.
Von der Gestaltung aus der Jugendstilzeit sind im Altarraum steinerne Weinreben und Getreideähren erhalten. Auch die lassen sich von uns ertasten, denn wir dürfen den Altarraum erkunden. Und ich lasse einmal nicht dem Auge, sondern dem Tastsinn den Vortritt: Der Marmor und der Sandstein unterscheiden sich schließlich auch in der glatten und körnigen Oberfläche, ja, sogar in ihrer Temperatur. So kalt der Marmor sich anfühlt, so warm wirkt der Sandstein. Und das Metall der Kerzenständer und des Taufbecken – ich würde fast sagen, dass es sich nach Glanz anfühlt. Oder sage ich das nur, weil ich mir ein Leben ohne Sehsinn nicht vorstellen kann?
Wir gehen die Stufen hinab, zurück in den Kirchenraum. Bald wird hier wieder der berühmte Kreuzchor sein Weihnachtsoratorium singen. Es wird schon seine guten Gründe haben, warum die Religionen der Welt nicht nur auf Dinge setzen, die man sehen kann – sondern auch auf das Gehör.
Birthe Mühlhoff
Dresden spricht …
Workshops, Rundgänge, Schreib- und Druckwerkstätten unter dem Motto „Sprache und Schrift. Dresden spricht viele Sprachen“
Zeitraum
03-12.2024
Projektbeteiligte
Yvonn Spauschus (Projektleitung)
Yulia Vishnichenko · Moussa Mbarek · Nadine Wölk · Rosa Brockelt · Yuliya Firsova · Martin Mannig (Workshopleitung)
Rosa Brockelt · Rosa Hauch · Falk Goernert · Birthe Mühlhoff (Moderation und Dokumentation)
Adina Rieckmann · Lydia Hänsel (Tourguides)
Inge · Mahsa · Karin (Ehrenamtliche Hilfe)
Kooperationspartner:innen
JugendKunstschule Dresden – Standort Passage, Omse e.V., Nachbarschaftshilfeverein, Stadtteilverein Johannstadt e.V., Malteser Hilfsdienste e.V., Jugendhaus LILA as well as Chinesisch-Deutsches Zentrum e.V., Lebenshilfe Dresden e.V., GEH8 Kunstraum und Ateliers e.V., Umweltzentrum Dresden – ABC Tische and many more
Gefördert durch
Das Projekt wird gefördert durch das Staatsministerium für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt. Diese Maßnahme wird mitfinanziert mit Steuermitteln auf Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes im Rahmen des Landesprogrammes Integrative Maßnahmen.