Dmytro Kupriyan – Fragments of War

Fotografien von Dmytro Kupriyan (Ukraine) - enstanden bei seinen Einsätzen in den Jahren 2015 und 2017 als Freiwilliger, als Fotojournalist und als Soldat an der Front im Krieg gegen die Separatisten in der Ostukraine.

Fragments of War

Fotografien von Dmytro Kupriyan (Ukraine)

„Scans in Originalgröße von Munitionsfragmenten, gefunden im Donbass-Gebiet in der Ukraine, sehen aus wie Asteroidenteile mit Rillen und Krümmungen, deren scharfe Kanten leicht jemanden töten oder verstümmeln können auf ihrem Weg vom Lauf zum Ort des Einschlags und der Absplitterung.

Jedes Fragment hat seine eigene Geschichte, die Umstände, unter denen ich es gefunden habe; die Herkunft, woher es stammt und wie ich es erhielt; den Ort, an dem es gefunden wurde. Wir werden wahrscheinlich nie erfahren, von welcher Seite des Konflikts es stammt, aber nach der Absplitterung und dem Einschlag beginnt eine andere Geschichte – eine Geschichte, die mit den Orten, Situationen und Menschen zu tun hat, die in der Nähe waren und die Schrecken des Krieges miterlebt haben.

Und nun sammeln wir diese Fragmente Stück für Stück und stellen eine neue Geschichte zusammen, die beschreibt, was während des Krieges geschah, die Beteiligung der Menschen, der Soldaten, der Freiwilligen, der Bürger – jeder wurde zu einem Fragment, das von seinem/ihrem Platz im Leben gestoßen und auf dem Schlachtfeld zurückgelassen wurde und das sich auftürmt zu etwas Neuem und Mächtigem.“

Das schreibt der 1982 in Kyiv geborene ukrainische Fotograf Dmytro Kupriyan über diese Fotoarbeit. Sie entstand bei seinen Einsätzen in den Jahren 2015 und 2017 als Freiwilliger, als Fotojournalist und als Soldat an der Front im Krieg gegen die Separatisten in der Ostukraine.

Kupriyan nutzt die Fotografie, um auf einfache, minimalistische und elegante Weise seine Sicht auf die Probleme der Gesellschaft darzustellen, sowie auch Wege zu weisen, um diese zu lösen. In seinem frühen Project „Tortured“ porträtierte er 65 Opfer von Folter durch die ukrainische Polizei. In „Fragments of War“ setzt er sich ganz konkret mit dem seit 2014 anhaltenden Krieg in der Ostukraine auseinander. In einer Fotoarbeit „When the War is over“ befasst sich Kupriyan mit der Zukunft und den Nachwirkungen eines jeden Konflikts, um Wege zur Beendigung des Krieges aufzuzeigen und zu definieren, was nach dem Krieg sein wird. Kupriyan sieht „den einzigen Weg zur Lösung der Probleme und Missverständnisse in der Gesellschaft im Dialog, in all seinen Facetten: verbal, subverbal, physisch, usw.“, wie er in einem Statement artikulierte.

Die Ereignisse der letzten Wochen, der offene Krieg Russlands gegen die Ukraine, brachen den Dialog jäh ab. Dmytro Kupriyan ist gegenwärtig wieder als Soldat bei der Ukrainischen Armee im Einsatz. Diese Ausstellung entstand in Zusammenarbeit mit der eastFOTOgallery in Grünewald. Wir danken Jürgen Roloff für die Vermittlung und dass er es kurzfristig unter den gegenwärtigen Umständen geschafft hat, Dmytro zu erreichen, um die Ausstellung zu autorisieren.

Fotografien: Dmytro Kupriyan
Kuration: Jan Oelker
Digitale Umsetzung: Simon Wolf, Aimée Deutschmann
Texte: Dmytro Kupriyan, Jan Oelker
Lektorat: Christin Finger

Eine digitale Ergänzung zur Ausstellung “Dmytro Kupriyan – Fragments of War” (15.03. – 06.04.2022) der Galerie nEUROPA

Fragment # 1

Gefunden in der Stadt Schtschastja im Bezirk Nowoajdar im Oblast Lugansk.

Gewicht – 1,9 Gramm
VOG-17-Granate (automatische Granatwerfer)
Anzahl der Splitter – etwa 100 Stück
Zerstörungsfläche – 70 Quadratmeter
Kaliber – 30 Millimeter
Länge der Patrone- 132 Millimeter
Länge der Granate – 113 Millimeter
Gewicht – 0,35 Kilogramm
Gewicht der Granate – 0,28 Kilogramm
Abschussgeschwindigkeit der Granate – 185 Meter pro Sekunde
Maximale Schussweite – 1700 Meter

Die Stadt Schtschastja im Bezirk Novoajdar im ukrainischen Oblast Lugansk wurde zu einem Gebiet an der Frontlinie. Ich kam als Teil einer Gruppe von Journalisten, um das Leben der Einwohner zu fotografieren. Die Menschen passten sich an die neuen Bedingungen an, der Ort war lebendig, oder sie versuchten zumindest, ein normales Leben zu führen, trotz des häufigen Granatenbeschusses in den Außenbezirken. Einige der Granaten schlugen in die Häuser des Dorfes ein.

Am zweiten Tag unseres Aufenthalts befragten wir den Vorsitzenden des Dorfrates – er erzählte uns von den Veränderungen, die sich vollzogen hatten – als er einen Anruf erhielt, dass in der Nähe ein Granateneinschlag stattgefunden hatte und ein Zivilist verwundet worden war. Eine VOG-17-Mörsergranate flog durch die offene Tür eines Ladens und explodierte auf dem Boden. Ein junger Mann erlitt eine Unterleibsverletzung. Seine Mutter ließ ihren Gefühlen freien Lauf und verfluchte den Krieg. Die Türen wiesen zur Seite der Separatisten, aber sie haben Angst, ihnen die Schuld zuzuweisen oder sie als Feinde zu bezeichnen, so wie sie Angst haben, das ukrainische Militär Verteidiger zu nennen. Und genauso haben sie Angst, diesen Krieg als Krieg zu bezeichnen.

Fragment #2

Gewicht – 71,6 Gramm
Mörsergranate 120 Millimeter
Kaliber – 120 Millimeter
Anzahl der Splitter – 3500 Stück
Anfangsgeschwindigkeit der Splitter – 1800 Meter pro Sekunde
Zerstörungsfläche – 1290 Quadratmeter
Gewicht der Granate – 16 Kilogramm
Gewicht des Sprengstoffs – 2,6 Kilogramm
Maximale Schussweite – 7,1 Kilometer
Abschußgeschwindigkeit der Mine – 272 Kilometer pro Stunde

Etwas pfiff in der Luft. Eine Mörsergranate! Sekundenbruchteile, um eine Entscheidung zu treffen. Es gab nur eine Lösung – hinwerfen. Und dann wegkriechen. Boom! Splitter bedecken die nahen Bäume und Dächer, schlagen in die Wände ein, fallen in den Schnee. Ich kroch in ein Loch unter dem Kanonenstand, wo sich bereits ein Kämpfer versteckte. Der Raum war überfüllt.

Ein weiteres Pfeifen und eine weitere Explosion. Dann noch eine. Ich machte Fotos von einem Kerl vor mir; ein anderer stand aus einer Grube neben mir auf.

– Schickst du mir ein Foto?

– Ja!

Diesmal wurde niemand getötet oder verwundet. Mörsergeschosse sind hier an der Tagesordnung, und die täglichen Duelle führen dazu, dass das Dorf nur noch ein einziges intaktes Haus hat, die Mauern von den Splittern zerfetzt sind, verwundete Hunde auf den Straßen herumlaufen, fast alle Bewohner das Dorf verlassen haben und der Ort zu einer Geisterstadt geworden ist.

Journalisten erreichen das Dorf Piski nur selten, nur die ganz Mutigen. Und nur wenige waren weitergezogen bis zum Flughafen von Donezk. Sechs Wochen später, am 28. Februar 2015, wurde der Fotograf Sergej Nikolajew hier durch einen Mörsersplitter getötet.

Fragment #3

Gefunden im Dorf Piski im Bezirk Jasinuwata im Oblast Donezk.

Gewicht – 46,3 Gramm
Mörsergranaten-Mine 82 Millimeter
Kaliber – 82 Millimeter
Anzahl der Splitter – 400-600 Stück
Zerstörte Fläche – 715 Quadratmeter
Gewicht der Granate – 3,31 Kilogramm
Gewicht des Sprengstoffs – 0,4 Kilogramm
Maximale Schussweite – 3,9 Kilometer

Mörserstellung “Jazz Band” des ukrainischen Freiwilligenkorps Rechter Sektor im Dorf Piski
in der Region Donezk.

Ein Trupp rückt für einen 24-Stunden-Einsatz aus. Ich hatte den Kommandanten El Gato (spanisch für Katze) überredet, mich mitzunehmen, damit ich fotografieren kann.

Zuerst wird die Stellung vorbereitet, die Mörsergranaten werden überprüft und von Schnee und Schmutz befreit (eine Arbeit, die von den Neulingen erledigt wird, die von den Erfahreneren lernen – sie müssen mit irgendetwas anfangen), und dann werden sie mit Schießpulver und Zündern ausgestattet. El Gato hatte seinen Kommandanten mehrmals angerufen und um mehr Mörsergranaten gebeten. Der Kommandeur sagte zu, aber das Militär darf keine Waffen mit dem ukrainischen Freiwilligenkorps Rechter Sektor teilen, da dieser nicht offiziell anerkannt ist und im Grunde eine „bewaffnete Formation” ist, die niemandem unterstellt ist. Daher sind Mörsergranaten rar und werden sehr vorsichtig eingesetzt, nur wenn die Ergebnisse sicher sind:

– Da bewegt sich etwas “Warmes” im Laub – kommt eine Meldung von der NEBO (Himmels)-Stellung, die das ganze Dorf Piski im Auge hat, – wirf mal eine Fougasse dort hin. – Negativ, Mörsergranaten sind rar, weiter beobachten, – antwortet “Jazz Band”.

Nach einer Weile ist das Radio wieder aktiv:

– Fahrzeugscheinwerfer hinter der Müllkippe, schießt eine „leichte“ Granate dort hin, bitte sehr.

– Granate weg, weiter beobachten, – meldet “Jazz Band” unmittelbar nach dem Schuss, bekommt Dank und Gute-Nacht-Wünsche als Antwort, nur um gleich wieder geweckt zu werden, um ein neues Ziel zu setzen. Nachts sprangen die Kämpfer bei Alarm auf, so routinemäßig als gingen sie zur Arbeit, schnappten sich die Patronen und eilten zum Mörser, den andere bereits in Stellung brachten.

Mehrmals wurde von der anderen Seite mit Mörsergranaten geantwortet, aber sie kamen nicht einmal in die Nähe… Sie feuerten wahllos.

So vergingen der Tag und die Nacht, und am Morgen kam eine neue Tagesschicht, und ganz beiläufig wurde der Dienst an den nächsten Trupp übergegeben, und wir schleppten uns durch das Dorf zu einem mehr oder weniger sicheren Keller, um etwas Schlaf zu bekommen.

Fragment #4

Gefunden in der Stadt Debalzewe im Oblast Donezk in der Ukraine.

Gewicht – 196, 7 Gramm
Artilleriegranate, wahrscheinlich 152 Millimeter
Kaliber – 152,4 Millimeter
Gewicht der Granate – 43,56 Kilogramm
Gewicht des Sprengstoffs – 7,65 Kilogramm
Anfangsgeschwindigkeit der Granate – 810 Meter pro Sekunde
Anfangsgeschwindigkeit der Splitter – 1800 Meter pro Sekunde
Zerstörungsfläche – 950 Quadratmeter
Maximale Schussweite der Haubitze 2A18 (D-30) – 17,4 Kilometer
Anzahl der Splitter unter 1 Gramm – 700 Stück
Anzahl der Splitter von 1 bis 4 Gramm – 1160 Stück
Anzahl der Splitter mit einem Gewicht von mehr als 4 Gramm – 1600 Stück

Ende Januar 2015 kam es zu schweren Kämpfen um Debalzewe, die zum Debalzewe-Kessel führten. Die Truppen drohten vollständig umzingelt zu werden, und es herrschte das Gefühl, dass das Ende unmittelbar bevorstand.

Zu diesem Zeitpunkt begann die vierte Mobilisierungswelle und ich wurde einberufen. Ich hatte zunächst einen Monat Ausbildung, dann begann der eigentliche Militärdienst.

Die Offiziere lasen während und zwischen den Vorträgen die Nachrichten und Bekanntmachungen vor. Alle unsere Gedanken waren dort, jeder war aufgeregt und hoffte, an eine so unsichere und trügerische Front geschickt zu werden.

Es stellte sich dann jedoch heraus, dass ich in meiner Dienstzeit im tiefsten Hinterland in einer Kommunikationseinheit eingesetzt wurde und es nicht vorgesehen war, dass ich an den Aktivitäten an der Front teilnehmen sollte.

Diese Granatsplitter lagen auf dem Boden eines Büros in unserer Militärbasis, verlassen und vergessen, und wären irgendwann auf dem Müll gelandet. Sie stammten aus Debalzewe. Als sich die Armee unter massivem Beschuss zurückzog, wurden sie von Offizieren als Souvenirs mitgebracht. Die Ausrüstung, die zurückkam, war getroffen und verstümmelt, mit Splittern, die die Aluminium-LKW-Überdachungen durchschlagen hatten und einige Autos waren verbrannt oder in Debalzewe zurückgelassen worden.

Wäre ich nicht zum Wehrdienst einberufen worden, wäre ich mit Sicherheit in Debalzewe gewesen und hätte Fotos gemacht. So oder so kam ich zu diesen Splittern.

Fragment #5

Gefunden in der stadtähnlichen Siedlung Stanizja Luganska im Gebiet Lugansk

Gewicht – 135,3 Gramm
MLRS GRAD (BM-21) Raketengranate
Kaliber – 122 Millimeter
Maximale Schussweite – 20100 Meter
Zerstörungsfläche – 1000 Quadratmeter
Gewicht der Granate – 66,6 Kilogramm
Anzahl der vorbereiteten Splitter (Gewicht 2,4 Gramm) – 1640 Stück
Anzahl der Granatsplitter (Durchschnittsgewicht 2,9 Gramm) – 2280 Stück

Am Vortag gab es einen Beschuss. Der Kontrollpunkt wurde von Raketenwerfern MLRS Grad (BM-21) beschossen, was zu zahlreichen Toten und Verwundeten und beschädigter Ausrüstung führte – sie sammelten alles ein, was übrig geblieben war, und verlegten es an einen neuen Standort. Da es uns verboten war, am Kontrollpunkt zu fotografieren, nahmen wir das, was von einer zerstörten Autotankstelle am Straßenrand noch stand, auf. Wir gingen herum und sahen, was passiert, wenn ein Gebäude direkt von einer Rakete getroffen wird – das Dach ist weggerissen, die Böden sind zerbrochen oder einfach in sich eingestürzt, die Türen sind weggesprengt oder aufgebläht wie Blech, Fensterglas ist nach außen geblasen, dünne Wände sind von Schrapnellen durchschlagen, wobei alle, die sich darin befanden, höchstwahrscheinlich tot sind.

Diesen Splitter fand ich unter meinen Füßen auf der Straße.

Im Moment dürfen Autos nicht passieren, die Straße ist gesperrt, und wir können nicht zurückfahren. Nach mehreren Tagen in der Nähe der Frontlinie ist es für uns an der Zeit, zurückzukehren, aber wir sind gezwungen zu bleiben. Bald wurde der Kontrollpunkt geräumt und der Verkehr wieder aufgenommen, so dass wir weiterfahren konnten.

Sechs Monate später hatte ich die Gelegenheit, den Beschuss durch einen MLRS Grad (BM-21) aus nächster Nähe zu spüren und zu sehen, und zwar von einem Posten aus, der sich neben dem beschossenen befand – es war Beschuss durch eigene Truppen, der ein Gebäude im Dorf Piski im Oblast Donezk traf, dessen Keller von Soldaten des Ukrainischen Freiwilligenkorps Rechter Sektor besetzt war.

Fragment #6

Gefunden in der Stadt Debalzewe im Oblast Donezk.

Gewicht – 134 Gramm
Artilleriegranate, wahrscheinlich 122 Millimeter
Kaliber – 122 Millimeter
Gewicht der Granate – 21,76 Kilogramm
Anfangsgeschwindigkeit der Granate – 690 Meter pro Sekunde
Anfangsgeschwindigkeit der Splitter – 800 Meter pro Sekunde
Zerstörungsfläche – 800 Quadratmeter
Maximale Schussweite der Haubitze 2A18 (D-30) – 15,2 Kilometer
Anzahl der Splitter von 1 bis 4 Gramm – 1000 – 1500 Stück
Anzahl der Splitter mit einem Gewicht von mehr als 4 Gramm – 400 – 850 Stück

Transporte oder irgendetwas auf Rädern sieht man selten vom Dorf Piski im Oblast Donezk von der Frontlinie wegfahren. Der letzte war der, der mich gebracht hat und am nächsten Tag, also vor einer Woche, abfuhr. Es war ein gepanzerter Geländewagen des Kommandanten Chornyi (Schwarz), der am Steuer saß. Das Auto war schwer und wir kamen mehrmals von der Straße ab.

Es war bereits Zeit für mich, nach Hause auf das “Festland” zurückzukehren. Meine Mutter rief mich mehrere Male an:

– Wo bist du? – war ihre übliche Frage…

– Im ATO-Gebiet, – war meine ebenfalls übliche Antwort, um den Standort nicht zu verraten.

– Machst du Fotos?

– Fotografieren… – nicht sehr aufschlussreich, was genau ich da machte.

Abreisetag. Die Rucksäcke wurden in einen uralten, leuchtend gelben Schiguli gepackt, an dessen Gepäckträger eine riesige Flagge befestigt war. Überraschenderweise für diese Gegend hatte das Auto noch alle Fenster intakt. Das bedeutet, dass die Reise bequem sein wird.

Drei Leute wollten los, darunter ich… Wir gingen, um uns von den Soldaten zu verabschieden, aber noch bevor wir uns vom Auto entfernten, gab es in der Nähe zwei Explosionen. Eine Backsteinmauer, die zehn Meter von uns entfernt war, wurde getroffen und flog Stein für Stein auseinander. Wir fielen in den Schnee und krochen unter das Auto. Zweite Salve – zwei Explosionen … Wir sprangen auf und rannten in den Keller. Kaum waren wir die Treppe hinuntergesprungen, schleuderte eine Explosion hinter uns einen weiteren Soldaten unter die Decke.

Alle sind am Leben. Die Küche gibt es nicht mehr. Der Beschuss endete so abrupt, wie er begonnen hatte.

Wir sprangen schnell ins Auto und machten uns auf den Weg…

Ich weiß nicht warum, aber an diesem Tag wurde niemand verletzt, der Einschlag verfehlte das Ziel nur knapp. Zufall…

Fragment #7

Gefunden in der Stadt Debalzewe in der Oblast Donezk.

Gewicht – 23,9 Gramm
Artilleriegranate, wahrscheinlich 122 Millimeter
Kaliber – 122 Millimeter
Gewicht der Granate – 21,76 Kilogramm
Anfangsgeschwindigkeit der Granate – 690 Meter pro Sekunde
Anfangsgeschwindigkeit der Splitter – 800 Meter pro Sekunde
Zerstörungsfläche – 800 Quadratmeter
Maximale Schussweite der Haubitze 2A18 (D-30) – 15,2 Kilometer
Anzahl der Splitter von 1 bis 4 Gramm – 1000 – 1500 Stück
Anzahl der Splitter mit einem Gewicht von mehr als 4 Gramm – 400 – 850 Stück

Es ist drei Tage her, dass wir Kyiv mit einem Fahrzeug verlassen haben, um freiwillige Hilfe für die Soldaten an der Front zu liefern, und außerdem müssen wir weitere Ladung vor Ort aufnehmen und ebenfalls an die Frontlinie bringen.

Der Plan, den wir hatten, war nicht allzu genau und nicht allzu detailliert – wir sollten warme Kleidung an Freunde im Dorf Piski liefern und dann über Kramatorsk und Slowjansk zu unseren Freunden in Wolnowacha und zu unseren freiwilligen Freunden, die wir über soziale Netzwerke in Mariupol kennengelernt hatten, weiterfahren. Ich besuchte die Stadt dreimal und konnte nicht viel vorweisen – als Journalist konnte ich keine Bilder von militärischen Operationen an der Front machen, da mir entweder gesagt wurde, ich sei zu spät oder ich dürfe nicht fotografieren…

Am Tag vor unserer Ankunft in Mariupol gerieten die Soldaten des Donbas-Freiwilligenbataillons unter Feuer und erlitten Verluste. Der Beschuss fand während eines weiteren Waffenstillstands statt, aber alle schwiegen darüber … Der Grund wurde uns sofort mitgeteilt – es war eine Reaktion auf den präzisen Beschuss durch die ukrainische Artillerie. Ein Volltreffer auf ein Ausbildungslager oder einen Stützpunkt, der etwa 200 Terroristen tötete, so setzten beide Seiten während des Waffenstillstands Artillerie ein. Etwa eine Woche später wurde in den Nachrichten darüber berichtet, und eine andere Einheit rechnete sich diesen Verdienst an.

In einer anderen Stadt an der Front befand sich eine militärische Mörsereinheit in einem verlassenen Schulhof und beschoss von 15 bis 16 Uhr abwechselnd die Gebiete auf der anderen Seite der Front. Es gab kein Gegenfeuer, da die andere Seite wusste, wohin sie feuerten. Hätten sie zurückgeschossen, wären die Mörser einfach in eine andere Stellung gebracht worden, wobei sich Zeit und Reihenfolge der Angriffe geändert hätten… Es kam beiden Parteien zugute.

Nicht alles, was an der Front geschieht, findet den Weg in die Nachrichten und wird der Öffentlichkeit bekannt. Viele menschliche Beziehungen bleiben unbekannt, insbesondere die oben erwähnten “Beziehungen” über die Front hinweg…

Fragment #8

Gefunden auf dem Stützpunkt des UVC RS (Ukrainisches Freiwilligenkorps, Rechter Sektor) des Oblast Donezk.

Geschoss 5,45 Millimeter
Kaliber – 5,45 Millimeter
Durchmesser – 5,60 Millimeter
Länge – 25,5 Millimeter
Gewicht – 3,5 Gramm
Startgeschwindigkeit – 915 Meter pro Sekunde
Schussentfernung aus AK-74 – 600 Meter
Geschoss 9 Millimeter
Kaliber – 9 Millimeter
Durchmesser – 9,27 Millimeter
Länge – 11,1 Millimeter
Gewicht – 6,2 Gramm
Startgeschwindigkeit – 315 bis 420 Meter pro Sekunde
Visierbereich Schuss aus PM (Makarov Pistole) – 50 Meter

Der Krieg war in vollem Gange, die Einnahme von Ilowaisk hatte gerade stattgefunden, jeder war darauf konzentriert, zu helfen und sich freiwillig an der Front zu melden.

Zahlreiche Freiwilligenbataillone und militärische Formationen wurden organisiert. Sie waren bereits bewaffnet und nahmen ihre Plätze an den Abschnitten der Front ein.

Als Fahrer nahm ich den Kameramann Leonid Kantor mit, um einen Film über eines dieser Bataillone zu drehen – das ukrainische Freiwilligenkorps Rechter Sektor, das sich später als das am besten organisierte und militanteste Bataillon erwies, das ich je gesehen habe. Der Rechte Sektor wurde zu einem Schreckgespenst für die andere Seite der Frontlinie, das Angst machte, als wären sie Wilde, die ihre Feinde rücksichtslos vernichten.

Ich bin nicht an die Front gegangen, sondern in der Basis geblieben. Ich absolvierte einen einwöchigen Ausbildungskurs über Waffenhandhabung, Kampftraining, Angriffs- und Sabotagetraining, Navigation – im Grunde die Dinge, die Soldaten in der Armee gelehrt werden sollten. Ich sammelte die Granaten und Kugeln auf dem Schießplatz und fertigte die Collagen an.

Dort traf ich Soldaten, die später für ihre Kämpfe im Dorf Piski bekannt wurden – sie ruhten sich aus und warteten auf die Ablösung. Es kam junger Nachschub, von denen die meisten an Ort und Stelle aussortiert wurden, und der Rest wurde als Anerkennung für die erworbene Erfahrung und als Beförderung zu einem Kontrollpunkt, dann zum Dorf Piski und – als höchstes Privileg – zum Flughafen von Donezk geschickt. Diejenigen, die auf dem Flughafen kämpften, wurden von den Terroristen selbst als “Cyborgs” bezeichnet, und dieser Titel wird in die Geschichte eingehen.

Wer war ich zu dieser Zeit?

Ein Kämpfer. Ein Fahrer. Ein Journalist. Ein Freiwilliger. Ein Bürger.

Fragment #9

Gefunden in der Stadt Debalzewe im Oblast Donezk.

Gewicht – 91,6; 14,1; 16,1; 31,2; 34,3; 67,4; 16,8 Gramm (von oben nach unten)
Artilleriegranate, wahrscheinlich 122 Millimeter
Kaliber – 122 Millimeter
Gewicht der Granate – 21,76 Kilogramm
Anfangsgeschwindigkeit der Granate – 690 Meter pro Sekunde
Anfangsgeschwindigkeit der Splitter – 800 Meter pro Sekunde
Zerstörungsfläche – 800 Quadratmeter
Maximale Schussweite der Haubitze 2A18 (D-30) – 15,2 Kilometer
Anzahl der Splitter von  1 bis 4 Gramm – 1000 – 1500 Stück
Anzahl der Splitter mit einem Gewicht von mehr als 4 Gramm – 400 – 850 Stück

Der Beginn des Konflikts in der Ostukraine hat gezeigt, dass die Armee als Institution in der Ukraine nicht existiert und dass das, was es gibt, nicht funktionstüchtig ist. Die Menschen begannen, sich in Freiwilligenbataillonen zu organisieren und sich zu bewaffnen, sie hatten ein Ziel und eine persönliche Motivation – die Integrität des Landes zu schützen. Es waren die Freiwilligenbataillone, die als erste an die Front gingen und zu kämpfen begannen.

Als Journalist und Freiwilliger war ich bei zahlreichen Bataillonen, die im Donbas kämpften, habe Menschen gesehen, die zu ihnen gehörten, habe sie fotografiert und mit ihnen gesprochen.

Im Januar 2015 wurde ich selbst mobilisiert und trat in die Reihen der ukrainischen Streitkräfte ein.

Ich wurde in der Kommunikation eingesetzt, obwohl ich den Kurs zum Presseoffizier absolviert und sechs Monate lang versucht hatte, mich in dieser Funktion in eine Kampfeinheit an die Front versetzen zu lassen… aber das Pressekorps erwies sich als eine neue Institution, die nicht als Stütze funktionierte. Die Armee hat Veränderungen nie gemocht und wollte nicht mit der Presse zusammenarbeiten. Allerdings gab es Leute, die auf eigene Initiative und mit Unterstützung der befehlshabenden Offiziere den Journalisten halfen.

Ein Jahr später, am Ende meines Dienstes, als die Armee schon fast Gestalt angenommen hatte, wurde der Krieg im Donbas zu einem eingefrorenen Konflikt, ähnlich wie im moldawischen Transnistrien und in Südossetien in Georgien, mit den entsprechenden Folgen, und niemand weiß, was in Zukunft daraus werden wird.

Fragment #10

Gefunden in der stadtähnlichen Siedlung Stanizja Luganska im Gebiet Lugansk.

Gewicht – 4,2 Gramm
Geschosshülle eines schweren Maschinengewehrs BZ-A
Kaliber – 23 Millimeter
Geschossgewicht – 175 Gramm
Anfangsgeschwindigkeit der Fragmente – 900 Meter pro Sekunde
Maximale Schussweite von ZU-23 – 2000 Meter

Dieser Krieg hat eine Menge bunter und interessanter Menschen unter seine Fittiche genommen – Menschen, die ihre Arbeit aufgaben und dem Ruf folgten, sich den Freiwilligenbataillonen anzuschließen, um ihr Land zu verteidigen. Warum haben sie sich angeschlossen? In erster Linie, weil die Mehrheit der Ukrainer erkannt hat, dass Aussitzen nicht ihr Ding ist.

– 1 –
Mein Freund Iwan Havrylko hat zwei Kinder und konnte allein aus diesem Grund die Einberufung im August 2014 vermeiden. Im Vorfeld bekam er den Spitznamen “der Geologe”, da er im Zivilleben als Geodät arbeitete. Wir lernten uns im Sommer 2007 kennen, als wir mit dem Boot das Schwarze Meer nach Georgien und zurück überquerten. Wir waren jung und leidenschaftlich, echte Kosaken. Ivan sah in der Tat wie ein Kosake aus – groß und kräftig, mit einer Kopfhaarlocke – jeder mochte ihn auf Anhieb.

Am Vorabend der Neujahrsfeiertage 2015 besuchte ich ihn an der Front im Dorf Karliwka in der Nähe des berüchtigten Dorfes Piski am Rande von Donezk. Damals war es dort ruhig, das Dorf lag abseits der Frontlinie; nur die sogenannten Avatare (betrunkene Soldaten) beschwerten sich ab und zu über uns. Die Stellung wurde allmählich eingerichtet, Bunker wurden gegraben und isoliert; der Kontrollpunkt funktionierte und ließ den Verkehr und die Menschen in beide Richtungen passieren. Ivan ging zum Dienst am Kontrollpunkt.

– 2 –
Unsere Route für die nächsten Tage im ATO-Gebiet führte uns durch die Dörfer Stanizja Luganska und Nowoajdar, Schtschastja und Trochisbenka. Ich fuhr im Auto des Lugansker Menschenrechtsaktivisten Kostiantyn Reutskyi zusammen mit zwei anderen Journalisten. Wir wollten eine Reportage über das zivile Leben vor dem Hintergrund des sechsmonatigen Krieges in der Ukraine drehen. Reutskyi fungierte zu dieser Zeit als Reporter und Kameramann – er drehte und machte Stand-ups, lieferte Kommentare und interviewte Beamte, Militärs, Lehrer und Zivilisten. Davor suchte er nach Wegen der Verständigung mit den Separatisten, die sich im Gebäude des Sicherheitsdienstes in seiner Heimatstadt Lugansk verschanzt hatten, musste die Stadt aber bald aufgrund von Drohungen verlassen. Er glaubt immer noch, dass er in seine Heimatstadt zurückkehren wird, dass seine Familie zurückkehren wird, aber er hat bereits ein neues Leben in Kyiv begonnen.

– 3 –
Nach dem er “Krieg auf eigene Kosten” gedreht hatte, begann der Aktivist und Filmemacher Leonid Kantor mit den Dreharbeiten zu seinem zweiten Film “Die Ukrainer” – dafür begab er sich auf den Flughafen von Donezk, wo heftige Kämpfe im Gange waren und woher Ende September 2014 alle Nachrichten kamen. Aber das Ziel der Kämpfe um diesen abgelegenen Außenposten war für alle unverständlich; es war nur ein Ort, an dem sich die Streitkräfte zweier Länder gegenseitig maßen. Leonid verließ seine Familie und seinen Bauernhof in Obirok für eine Weile, um die Kämpfer des ukrainischen Freiwilligenbataillons “Rechter Sektor” zu dokumentieren und zu filmen, die den Flughafen und das nahe gelegene Dorf Piski verteidigten, um der ganzen Welt – die damals nur einen endlosen Strom russischer Propaganda zu sehen bekam – zu zeigen, dass die Ukrainer bereit sind, gegen diese mächtige und gewaltige Militärmaschinerie zu kämpfen, egal wie beängstigend sie erscheinen mag.

– 4 –
Trochisbenka ist ein Dorf an der Frontlinie. Es wird häufig von den Separatisten über den Fluss hinweg beschossen, da sich die Streitkräfte und das Aidar-Bataillon am Rande des Dorfes befinden. Es kommt häufig zu Stromausfällen, und die Bewohner lebten in den Kellern, wo obendrein das Gas abgestellt war… Wir filmten unseren Bericht und kehrten zurück, wobei wir auf mehrere gepanzerte Militärfahrzeuge trafen, die sich uns näherten. Wir fuhren weiter, aber nach ein paar Kurven schienen wir uns zu verfahren, also fragten wir die Militärs, die in ihrem alten UAS-Geländewagen mitten auf dem Feldweg etwas besprachen, nach dem Weg. Es stellte sich heraus, dass es sich um Polizisten der Nowoajdar-Polizeiabteilung der Region Lugansk handelte, die auf eigene Faust in der Gegend patrouillierten. Nach einem kurzen Gespräch wurden wir eingeladen, sie zu besuchen und die Nacht mit ihnen zu verbringen… Ihr Anführer und Leiter der Gruppe war Leonid Pantykin, der vor sechs Monaten stellvertretender Leiter einer Polizeistation in Lugansk war und dem es gelungen war, nach der Eroberung der Stadt durch die Separatisten etwa 500 Kinder aus den besetzten Gebieten zu holen, und nun war er Leiter der Polizeiabteilung von Nowoajdar.

– 5 –
Ich befinde mich wieder einmal in Mariupol. Ich wollte etwas an der Frontlinie aufnehmen, die sich der Stadt näherte, und die Vorbereitungen für ihre Verteidigung, so war ich darauf vorbereitet, dass ich dort lange bleiben und mich vielleicht auf der anderen Seite des Konflikts wiederfinden könnte, sollte die Stadt erobert werden. Während der Straßenkämpfe gerieten die Polizeistation und die Gebäude der Stadtverwaltung unter Beschuss und waren noch immer beschädigt. Das Rote Kreuz verteilte in der Nähe Hilfsgüter an Flüchtlinge, es gab Straßensperren und Wohnhäuser, die einige Monate später von Raketen der Separatisten beschossen werden sollten. Ich fotografierte das Leben in der Stadt, die Folgen und die Reaktionen der Anwohner. In dieser Zeit traf ich einen Deutschen, der mit seinem eigenen Auto kam, um “den Krieg zu beenden”, wie er es erklärte. In manchen Dingen war er verrückt und wütend, in anderen hatte er einfach nur Glück – er sprach mit Vitali Klitschkos Frau und erklärte ihr, wie man den Krieg stoppen kann, entwarf seltsame Formeln wie “√RATIO = LIEBE” und plante, zum Präsidenten und den Separatistenführern zu gehen, um sie zum Aufhören zu überreden.

Ich hatte Angst, ihn in der Stadt allein zu lassen, denn er war naiv wie ein Kind. Er wollte ins Krankenhaus gehen und das Essen, das er auf seiner langen Reise von fürsorglichen Menschen erhalten hatte, an die verwundeten Soldaten weitergeben, also taten wir uns zusammen, denn eigentlich wollte ich das Krankenhaus selbst besuchen. Es gab dort einige Leichtverwundete, während alle Schwerverletzten am Vortag nach Dnipropetrowsk gebracht worden waren. Der Deutsche verteilte verschiedene Leckereien und aus irgendeinem Grund auch Malbücher für Kinder. Er war ein seltsamer Mann, der irgendwie den Hass auf den Krieg mit der Liebe zu den Menschen verband und Vorstellungen von einer globalen Verschwörung mit der Bösartigkeit einzelner Menschen, insbesondere des russischen Präsidenten Putin. Er sah diesen Krieg als einen Kampf zwischen Gut und Böse, und zwar in jedem Einzelnen. Wir machten ein gemeinsames Foto in einem Fotoautomaten und gingen dann getrennte Wege – er  ging weiter, und ich beschloss, nach Kiew zurückzukehren.

Fragment #11

Gefunden in der Stadt Slowjansk in der Oblast Donezk.

Gewicht – 11,9; 6,4; 9,5; 6,8; 7,0 Gramm
Artilleriegranate, wahrscheinlich 122 Millimeter
Kaliber – 122 Millimeter
Gewicht der Granate – 21,76 Kilogramm
Anfangsgeschwindigkeit der Granate – 690 Meter pro Sekunde
Anfangsgeschwindigkeit der Splitter – 800 Meter pro Sekunde
Zerstörungsfläche – 800 Quadratmeter
Maximale Schussweite der Haubitze 2A18 (D-30) – 15,2 Kilometer
Anzahl der Splitter von  1 bis 4 Gramm – 1000 – 1500 Stück
Anzahl der Splitter mit einem Gewicht von mehr als 4 Gramm – 400 – 850 Stück

Zwei Jahre später kehrte ich in das Gebiet der sogenannten Anti-Terror-Operation zurück, um ein neues Projekt über diesen Krieg und unsere Beteiligung an ihm zu machen. Mit meinem Freund Maxim Dondyuk fuhren wir von Slowjansk nach Stanizja Luganska entlang der Frontlinie, dann zurück nach Slowjansk, von wo aus wir nach Süden nach Mariupol und über Slowjansk zurück nach Hause fuhren. Maxim macht sein Projekt über den Krieg und die Narben, die er hinterlässt, und ich mache meins mit dem Titel “When the war is over” (“Wenn der Krieg vorbei ist”), über die höchsten Ziele der Ukraine, die wir auf dem Weg verloren haben: die Integrität des Landes, die Wiederherstellung der Grenzen und die Einheit der Gesellschaft gegen die Aggression. Der Krieg dauert nun schon das dritte Jahr an und es ist unklar, wann er enden wird, genauso wie es unklar ist, wann und wo er begonnen hat. Die Gesellschaft verstrickt sich im Krieg und behandelt ihn am Rande der Aufmerksamkeit als die Norm. Und diese illusorische Zeitschleife und das Erreichen von Zielen ist der erste Schritt in die Niederlage.

Das ist das erste Mal, dass ich in Slowjansk bin, wo die Kämpfe stattfanden – das Krankenhaus, die Kreuzung davor und die Chemie-Fabrik. Seit dieser Zeit blieb alles unangetastet, einiges begann zu verfallen, einiges wurde von Schrottsuchern mit neuen Narben verstümmelt. Eines der vielen Häuser hier wurde wieder errichtet, die Brücke, die die Separatisten in die Luft gesprengt hatten, und die Straße dorthin sind nun wieder aufgebaut.

Mein Freund zeigte mir den Ort, an dem er war, als die Bombardierungen stattfanden, und beschrieb, was er sich damals vorstellte und was er heute versteht. Wir gingen auf die Suche nach den Narben, die der Beschuss an Häusern, Grundstücken und Bäumen hinterlassen hatte, und kletterten in zerstörte Häuser. Auf dem Dach des Hauptgebäudes des Krankenhauses, durch ein Loch, durch das man den Himmel sehen kann, fand ich diese Granatsplitter, die im Balken steckten – mit der Zeit sind sie rostig geworden und kaum noch zu erkennen.

Das Krankenhaus, in dem früher viele Menschen behandelt wurden, ist jetzt leer und verlassen, so dass wir einfach durch die zerstörten Pavillons und durch den Garten mit den von Splittern vernarbten Bäumen und dem dahinter liegenden Graben gingen. Es sieht so aus, als ob das Krankenhaus nie wieder aufgebaut werden kann, so bleibt es der weiteren Zerstörung überlassen, wie ein Denkmal für die Zukunft, wie ein Mahnmal zur Warnung.

Ich hatte das seltsame Gefühl, dass hier etwas Ungewöhnliches und Unnatürliches geschah – es war die Stille. Die Menschen sprechen nicht über die wichtigen Dinge, über ihre Pläne, über ihre Staatsbürgerschaft, über ihre Zukunft, als ob es nicht passieren würde, wenn man darüber spricht. Die Menschen reden nicht über das, was sie beschäftigt, sagen nicht ihre Meinung über den Krieg, weil sie Angst haben.

Alles um uns herum ist still, es ist eine Stille wie in Tschernobyl, wo es keine Menschen gibt, aber hier gibt es Menschen, die Angst haben, den geringsten Laut von sich zu geben, die Angst haben, aufzufallen.

When the war is over

Film von Dmytro Kupriyan (Ukraine)

“When the war is over” (wenn der Krieg vorbei ist) entstand 2017 als Folgeprojekt zu „Fragments of War“. Dmitro Kupriyan befasst sich dabei mit der Zukunft und den Nachwirkungen eines jeden Konflikts:

„Zwei Zivilisationen brechen im Herzen Europas zusammen, und nun schon im dritten Jahr wird dieser Zusammenbruch als Krieg in der Ukraine bezeichnet. Die Ukraine befindet sich nun zwischen dem oberen und dem unteren Mühlstein – auf der einen Seite die westlichen demokratischen Länder und auf der anderen Seite das totalitäre Russland mit seinen territorialen Ansprüchen.

Aber alle Kriege enden, so oder so. Das Hauptziel dieses Projekts ist es, die Menschen an die Notwendigkeit zu erinnern, den Krieg zu beenden und zu definieren, was nach dem Krieg sein wird. Wird die “Sonne” über dem Kopf scheinen, wird es möglich sein, einen Punkt zu setzen und weiterzugehen, denn die Geschichte hat gezeigt, dass alles relativ ist.“

Nach dem Waffenstillstand fotografierte Kupriyan 2017 im Frontgebiet im Donbas, Narben und Rückstände, die die Kämpfe hinterlassen haben, sowie zerstörte Gebäude an die der Schriftzug “When the war is over” projiziert wurde. Er untermalt diese Bilder mit dem Sound aus dem Autoradio, indem sich ukrainische Sender und die der Separatisten überlagern, die auf der gleichen Frequenz senden – aus heutiger Sicht wirkt diese Kakophonie wie eine Vorahnung des medialen Krieges, der gegenwärtig, wie auch die Kämpfe mit den Waffen, umso heftiger geführt wird. Beide Seiten senden, das Zuhören wird unmöglich – dabei sieht Dmito Kupriyan den einzigen Weg zur Lösung der Probleme und Missverständnisse in der Gesellschaft im Dialog.

(c) Foto: Jürgen Roloff

Dmytro Kupriyan

Dmytro Kupriyan wurde 1982 in Kyiv, Ukraine, geboren. Zunächst studierte er am Kyiver polytechnischen Institut und schloss als Ingenieur ab, arbeitete jedoch schon früh als Fotojournalist bei Nachrichtenagenturen. Über mehrere Jahre beschäftigte er sich mit dem Thema Folter, insbesondere bei der ukrainischen Polizei. Erste Ausstellung zu diesem Projekt „Tortured“ zeigte er bereits im Jahr 2009.

Mit dem Ausbruch des ukrainisch-russischen Konflikts im Donbas verlegte er den Fokus seiner freien Fotoarbeiten auf das Thema Gewalt im weitesten Sinne des Wortes. In seinen Einsätzen als Freiwilliger an der Front, während seines Wehrdienstes in der Ukrainischen Armee im Jahr 2015 und als er 2017 als Fotojournalist an die Frontlinie in die Ostukraine zurückkehrte, entstanden verschiedene Projekte über den Krieg in der Ukraine, von denen “Fragments of War” und “When the War is over“ auszugsweise in dieser Ausstellung zu sehen sind.

In jüngeren Arbeiten widmet er sich der Notwendigkeit des Dialogs in der Gesellschaft.

www.kupriyan.com

Ausstellung in der Galerie nEUROPA

(c) Fotos: Jan Oelker

Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien