Am 03. Juni waren die Dresdner Nachbarschaften auf Entdeckungstour in Gorbitz unterwegs. „Wer wohnt in Gorbitz? Und wer ist Nachbar?“ — “Wie, wer ist Nachbar? Ich verstehe die Frage nicht.” — “Das sind wir doch alle. Was soll die Frage?”
Text: Rosa Hauch · Fotos: Yvonn Spauschus · Illustrationen: Rosa Brockelt
Es muss immer erst mal einer anfangen…
Irgendwie sind wir alle Lemminge. Setzt sich einer, nehmen die anderen auch Platz. Nimmt sich einer etwas zu trinken, ziehen die anderen nach. Das ist alters-, geschlechts- und nationalitätsunabhängig. So scheint es. Fängt einer an zu quatschen, … beteiligen sich die Gleichaltrigen. Und mir wird plötzlich irgendwie mulmig. Da ist jemand, den ich von früher kenne. Wann genau, schießt es mir durch den Kopf? Was war da? Was weiß er von mir? “Wir kennen uns doch!” Verdammt, ja, denke ich und frage: “Wer bist du?” und … woher kennen wir uns, wollte ich anschließen, doch da fällt schon der Name. Die Gedächtnismaschine läuft an und läuft heiß und zum Glück geht’s dann auch mit der eigentlichen Veranstaltung los. Tage später grüble ich immer noch.
Wer wohnt in Gorbitz? Fast alle melden sich. Und wer ist Nachbar? Nur die Organisatoren melden sich. Komische Situation. “Wie, wer ist Nachbar? Ich verstehe die Frage nicht.” “Das sind wir doch alle. Was soll die Frage?”
Es ist nicht uninteressant, scheinbar Klares, Offensichtliches zu hinterfragen.
Mit diesem und anderen Gedanken machen wir uns auf die Socken, Sandalen, Sneakers. Lassen den Club Passage hinter uns, der eine wechselhafte Geschichte hinter sich hat. Vom Kulturzentrum mit Jazz, Flamenco, Kino zum Dornröschenschuppen. Doch jetzt kommt wieder Leben rein, so der Plan. Die 100 Jahre Ausreden-absagen-und-corona-schlaf sind Geschichte in der Clubgeschichte.
Wir gehen, bergan. Was sonst. Aufwärts ist auch für die Gelenke viel gesünder. Und die 80-Jährigen geben den Wanderschritt vor. Nix mit gemütlich plauschen. Stadtspaziergang ist nichts für Trödler. Der Gorbitz Race der rund 20 Teilnehmenden wandert die Promenade entlang, verzichtet auf die Tram-Tickets und vertraut dem guten Schuhwerk.
Uta ist auch dabei. Sie arbeitet ehrenamtlich bei der Treberhilfe und wird heute von ihrer Enkelin begleitet, die es meisterhaft beherrscht, Social-Media-Kanäle zu skimmen und kein Wort der Unterhaltung zu verpassen. Sie lauscht unbemerkt aufmerksam und checkt auch den vorbeifahrenden Wagen der Treberhilfe. Uta läuft nicht ganz so engagiert den Hang hinauf und bedauert, dass man so wenig erfährt von den Dingen, die um einen herum passieren. Wir reden über Nachbarschafts-Apps und das Schwarze Brett, welches doch viel stärker in Supermärkten genutzt werden könnte. Einkaufen muss schließlich jeder. Und wenn erstmal einer anfängt, …
Barbara – 40 Jahre in Gorbitz
Mit 24, geschieden und einem Kind kam sie nach Gorbitz. Heute hat sie sechs erwachsene Kinder, ein paar Beziehungen mehr und immer noch nicht genug von ihrem Kiez. Ihre Älteste lebt heute in Bremen als Bibliothekarin und fühlt sich nach wie vor als Sächsin. Barbara hat die Philippusgemeinde mit aufgebaut. Anfangs wurden auch in Wohnzimmern Gottesdienste gehalten.
Irgendwann war auch in der Gemeinde Generationenwechsel angesagt. Was braucht man noch? Was fliegt weg? Wie geht Ausmisten?
Die Dame mit Hut und neugierigen, fröhlichen Knopfaugen weiß viel über Gorbitz, hat nahezu alle Zeitungen und Blättchen über den Stadtteil aufgehoben und auch die Schattenseite des Hierseins erlebt. Klassischer Handtaschenklau und Naziparolen, doch sie gestattete es nicht, dass ihr diese Erlebnisse Angst machten. Rausgehen heißt ihre Eigentherapie. Gorbitz ist nicht so. Das hat auch ihre offensichtlich vietnamesisch aussehenden Jungs stark gemacht. Heute leben viele Migranten in Gorbitz und so langsam erobern sie auch die Angebote der Familienzentren und Begegnungsstätten. Dann finden Gespräche statt, manchmal mit Händen und Füßen, manchmal mit Dolmetscher, manchmal einfach so, wie das halt so ist unter Nachbarn.
Wenn keine Formulare ausgefüllt werden, füllt ein würziger Duft nach allerlei Köstlichkeiten die Räume, werden Sachen getauscht, Tänze getanzt oder Handarbeiten gemacht. Häkelanleitung für Pikmin dringend gesucht. Und warum kommen wir mitten im Sommer auf Stollen? Unser Lieblingsweihnachtsgebäck hat eine bemerkenswerte Migrationsgeschichte zu erzählen. Zutaten, die ihn zu dem machen, was die Leute so lieben, also Zitronat, Orangeat, Rosinen oder Sultaninen kommen definitiv nicht aus Deutschland und selbst Mehl und Butter haben oft eine lange Reise hinter sich. Warum dann nicht gleich den Tisch etwas bunter decken?
Und am Rande bemerkt: Bayern und Berliner geben ihren Dialekt nie auf. Aber wenn ein Sachse nach Berlin kommt, versucht er … wie Kenner hören, erfolglos, einen auf Balina zu machen mit etepetete, dufte und behumpsen.
Gemeinsam gärtnern im Gemeinschaftsgarten
“Geht hin, macht mit, bringt euch ein – wir sehen uns dort“, so endet der erste Blogbeitrag von Sebastian zum Gorbitzer Gemeinschaftsgarten in der Espenstraße, direkt neben der Laborschule. Das war im Januar 2015. Aus dem ehemaligen Schulgarten der Laborschule des Omse e.V. wurde 2016 offiziell das vierte Gemeinschaftsgartenprojekt in Dresden. Damals starteten etwa 30 Interessierte zwischen wenigen Monaten und erfahrenen 75.
Inzwischen gestalten 17 Hobbygärtnerinnen und -gärtner, sowie eine Familie aus Afghanistan und eine Familie aus Syrien die kleine Landschaft mit Teich, Sommerküche, Hütte, Bäumen, Sträuchern und natürlich bienenfreundlicher Wiese.
Aller vier Wochen trifft man sich zum Brunch. Da wird geredet, geplant, entschieden und gegessen, was jeder so mitbringt. Wer Interesse am Gärtnern hat und mitmachen möchte, wird immer am zweiten Samstag im Monat, ab 10:00 Uhr willkommen geheißen. Gärtnern kann jeder, auch ohne Vereinsmitglied zu sein, allerdings nicht einfach so anonym. Bitte stellt euch vor und den Fragen der anwesenden Gärtner.
Das Grundstück des Gartens gehört UFER, Urbane Freiräume Erschließen Ressourcen. Der UFER-Projekte Dresden e.V. betreut insgesamt acht Gemeinschaftsgärten in unterschiedlichen Dresdner Stadtbezirken.
Ute Netz hat den Teilnehmern des Gorbitzer Stadtspaziergangs den Garten vorgestellt. So ganz nebenbei hat sie sich im Ehrenamt neben dem Gärtnern auch eine überzeugende Kommunikationsstrategie angeeignet. Dabei war vor dem Projekt Reden nicht ihre Stärke, schon gar nicht vor Fremden. Auch das meistert sie jetzt mit Bravour. Nur gegen Vandalismus ist noch kein Kraut gewachsen. Mit großem Bedauern spricht sie davon, dass aufgrund jüngster Vorfälle der Garten allabendlich abgeschlossen werden muss.
Übrigens: Im UFER e.V. vollzieht sich gerade ein Generationenwechsel. Einen besseren Zeitpunkt zum Durchstarten für junggebliebene und junge Naturliebhaber kann es also kaum geben.
UFER-Projekte Dresden e. V. · Hechtstraße 32 · 01097 Dresden
Mail: info@ufer-projekte.de · Telefon: +49 351 86276645
03.06.2022 · Stadtteilspaziergang in Gorbitz
Club Passage (JugendKunstschule Dresden)
03.06.2022 · Erzählcafé in Gorbitz
Gemeinschaftsgarten Gorbitz
Dresdner Nachbarschaften
Damals, Heute, Morgen / Zuhören, Erinnern und Gestalten
In unseren Erzählcafés und Gesprächsrunden, Stadtteilrundgängen und Workshops wollen wir euch ermuntern, Geschichten zu erzählen und Visionen zu entwickeln.
Zeitraum
05-12.2022
Projektbeteiligte
Yvonn Spauschus (Projektleitung)
Anne Ibelings · Moussa Mbarek · Nadine Wölk (Workshopleitung)
Uta Rolland · Rosa Brockelt · Rosa Hauch · Falk Goernert (Dokumentation und Moderation)
Kooperationspartner:innen
JugendKunstschule Dresden · Omse e.V. · Löbtop e.V. · Quartiersmanagement Prohlis, Johannstadt und Gorbitz · Sigus e.V. · In Gruna leben e.V. · UFER-Projekte Dresden e.V.
Gefördert durch
Das Projekt wird gefördert vom House of Resources Dresden+