Vielfältige Nachbarschaften in Prohlis

Am 08. Juli waren die Dresdner Nachbarschaften auf Entdeckungstour in Prohlis unterwegs. Wie lebt es sich hire? Wie ist das nachbarschaftliche Miteinander? Wie wird der öffentliche Raum genutzt? Welche historischen Hintergründe gibt es?

Am 08. Juli waren die Dresdner Nachbarschaften auf Entdeckungstour in Prohlis unterwegs. Wie lebt es sich hier? Wie ist das nachbarschaftliche Miteinander? Wie wird der öffentliche Raum genutzt? Welche historischen Hintergründe gibt es?

Text: Uta Rolland · Fotos: Yvonn Spauschus

Das Plattenbaugebiet Prohlis hat einen schwierigen Ruf und gilt in der Städtebauförderung als „Stadtteil mit besonderem Entwicklungsbedarf“. Frau Stein vom Verein Querformat e.V., einem gemeinnützigen Selbsthilfeverein für sozial und finanziell Benachteiligte, ist genau die richtige Person für die Führung durch den Stadtteil. 

Es ist eine bunte Runde, die sich an einem Freitag Anfang Juli zusammenfindet: ein Vater mit seiner Tochter im Grundschulalter, ein junger Mann, drei ältere Damen, ein Ehepaar und eine Gruppe Erwachsener, die sich gut zu kennen scheinen. Insgesamt sind es 17 Personen.

Treffpunkt ist das KIEZ im Prohliszentrum. Die Trägerschaft hat der Verein ZUHAUSE IN PROHLIS e.V., der 2020 gegründet wurde und aus einem Kultur- und Kunstprojekt von Societätstheater, Prohliser Quartiersmanagement und anderen Prohliser Akteuren entstand. Die einladenden Räume am Eingang des Einkaufszentrums bieten verschiedensten Initiativen die Möglichkeit, Veranstaltungen durchzuführen. Es ist ein offener Ort für Ausstellungen, Filme, Gesprächsangebote, gemeinsames Musizieren, Konzerte und Theateraufführungen.

Durch das große Einkaufszentrum geht es Richtung Palitzschhof. Auf dem Weg entlang einer von Hochhäusern gesäumten vielbefahrenen Straße ist zu erfahren, dass der junge Mann von seiner Nachbarin quasi vom Einkaufen zur Teilnahme am Stadtteilspaziergang überredet wurde. Martin ist 21 und wohnt seit 2013 in dem Hochhaus in Prohlis, in dem Christl, 74, seit 2004 und ihr Freund Günther, 66, schon seit 1989 wohnen. Seit vielen Jahren schon gibt es einen regen nachbarschaftlichen Austausch, bei dem zu Geburtstagen und anderen Feiern schon mal Torten und Kuchen von Etage zu Etage wandern.

Wie ein Relikt aus alter Zeit taucht der Palitzschhof zwischen den modernen Häusern auf. Es ist das letzte erhaltene Gehöft des alten Prohliser Dorfkerns. Eins der zwei historischen Gebäude wird von einem Bauzaun abgesperrt – hier soll bis Anfang 2024 das neue Bürgerhaus Prohlis als Kultur- und Nachbarschaftszentrum in der Trägerschaft der Jugendkunstschule entstehen.

Das zweite Haus wurde schon vor über 20 Jahren saniert. Erdgeschoss und 1. Etage sind seitdem Sitz einer Außenstelle der JugendKunstschule Dresden. Leider ist niemand da, nur durch die gläserne Eingangstür können die Teilnehmer einen Blick auf einen hellen, großen Raum erhaschen.  

Im ausgebauten Dachgeschoss befindet sich das Palitzsch-Museum. Hier werden die Spaziergänger vom Museumsleiter persönlich begrüßt. Herr Neukirch erläutert den Aufbau der Ausstellung, in der es um die Ortsgeschichte geht. Es ist eine lange und interessante Geschichte von den ersten Spuren der Besiedlung vor 7.000 Jahren bis zur Plattenbausiedlung der DDR-Zeit, die in der Ausstellung sehr anschaulich dargestellt wird. Auch das Leben und Wirken des Prohliser Bauern und Naturwissenschaftlers Johann Georg Palitzsch (1723-1788), der zu seinen Lebzeiten mit wissenschaftlichen Aktivitäten europaweite Bekanntheit erlangte, ist Teil der Ausstellung. Der Astronomie als Hauptthema seiner Forschungen ist die Hauptattraktion des Museums gewidmet: ein digitales Planetarium mit einem kulturgeschichtlichen Exkurs auf das astronomische Weltbild. Im Laufe des Vortrags über Sternenbilder und Erdbeobachtung stellt sich ganz nebenbei heraus, dass Martin als einziger der Gruppe weiß, dass Dresden flächenmäßig an vierter Stelle der Großstädte bundesweit steht.

Am Bauzaun vor dem Gebäude gibt es einen Rückblick auf die jüngere Geschichte des zukünftigen Bürgerhauses, als einzelne Teilnehmer*innen von der schönen und belebten Zeit mit Projekten, Ausstellungen, kulturellen Veranstaltungen, Konzerten und Festen schwärmen. Sogar ein Tonstudio hat es gegeben, das von Alt und Jung gleichermaßen benutzt werden konnte. Die Rede ist von der Zeit 2007 bis 2012, als der Verein Idee 01239 e.V. an diesem Standort ein vielfältiges Programm unter Einbezug nationaler und internationaler Künstler umsetzte, das den Austausch zwischen Menschen im Stadtraum Prohlis zum Ziel hatte. Ab 2009 wurde diese Arbeit in guter Nachbarschaft vom Verein Querformat e.V. mit dem Schwerpunkt auf sozialen Belangen unterstützt. Es ist zu hoffen, dass das neue Bürgerhaus mit seinen Angeboten diese Lücke schließen kann.

In diese Zeit vor über zehn Jahren fällt die Entstehung der Hausmusikgruppe, die sich noch immer jeden Freitag zum gemeinsamen Singen im Palitzschhof trifft – jedenfalls dann, wenn sie nicht an einem Stadtteilrundgang teilnimmt wie diesen Freitag. Fünf der zehn Chormitglieder sind dabei. Für einen davon, Karl-Heinz, 72, ist das Singen eine besondere Passion: „Singen ist schöner als Einkaufen!“, sagt er enthusiastisch und berichtet, dass er seit vielen Jahren auch solistisch bei Veranstaltungen auftritt. Mit Musik von einer CD singt er seit vielen Jahren bei verschiedenen Veranstaltungen seine Lieblingsschlager, so zum Beispiel „Rote Lippen muss man küssen“, „Butterfly“ und „Ganz in Weiß“. Einmal hat ihn die Begegnung mit einer Dame dazu inspiriert, selbst einen Schlager zu texten und zu komponieren. Schiedsrichter in einem Sportverein war er auch. Und er engagiert sich in der Bürgerinitiative Prohlis.

Die Bibliothek Prohlis wird erst kurz vor Feierabend erreicht, trotzdem nehmen sich die beiden freundlichen Mitarbeiterinnen Zeit, die Gruppe zu begrüßen und die Einrichtung vorzustellen. Mit 425 qm hat die Bibliothek seit 2003 einen sehr guten Standort direkt am Prohliszentrum. Der Umzug aus dem kleineren Vorgängerquartier erfolgte mit Hilfe des Förderprogramms „Soziale Stadt“.

Das Stadtteilbüro des Quartiersmanagements Prohlis in der Prohliser Allee 33 ist die zentrale Informations- und Vernetzungsstelle im Quartier. Wie die Mitarbeiterin Frau Kenner berichtet, können sich die Bürger während der Sprechstunden über aktuelle Veranstaltungen, Angebote und Entwicklungen in ihrem Stadtteil informieren. Das Quartiersmanagement ist seit dem Jahr 2000 ein wesentlicher Bestandteil der Prohliser Stadtteilarbeit. In den vergangenen Jahren unterstützte und initiierte es zahlreiche Initiativen von Bewohner*innen, auch einige regelmäßige Veranstaltungsreihen sind dem Quartiersmanagement zu verdanken.

Wieder unterwegs erzählt ein Ehepaar aus dem benachbarten Stadtteil Plauen, dass es gern zu Veranstaltungen und Festen nach Prohlis kommt. Ein Fest, so erinnern sie sich, war den Prohliser „Riesenfüßen“ gewidmet – entlang der Herzberger und Berzdorfer Straße haben die Gärtner die Grünrabatten in Form von Riesenfüßen angelegt, die nur von oben zu erkennen sind. Während des besagten Festes gab es zum Beispiel einen 35 m langen Riesenschal. Er wurde von der Handarbeitsgruppe des Vereins Querformat e.V. gestrickt und schmückte sehr eindrucksvoll von oben nach unten eines der Hochhäuser.   

Am Malteser Treffpunkt Prohlis in der Berzdorfer Straße 20 begrüßt uns die Leiterin Michaela Platz und stellt das Programm vor. Dazu gehören Angebote für Menschen aller Kulturen im Stadtteil. Die freundlichen Räume bieten Möglichkeiten für Begegnung, Austausch und Information. Vieles wird mit Hilfe ehrenamtlicher Mitarbeiter*innen umgesetzt. Ganz dem Thema Nachbarschaft gewidmet ist das Nachbarschaftscafé, ein offener Treff für Menschen aus der unmittelbaren Umgebung, bei dem in lockerer Runde  Erfahrungen ausgetauscht und neue Kontakte geknüpft werden können.

Auch Unerwartetes ist beim gemeinsamen Flanieren zur nächsten Etappe zu bestaunen, als ein paar scheue Nachbarn, einige Hasen nämlich, über den Weg hoppeln, um in dem hochgewachsenen Grün zwischen den Hochhäusern wieder zu verschwinden.

In den Räumen des Vereins Querformat e.V. in der Herzberger Straße 6 ist es eng, aber gemütlich. Der 2009 gegründete Verein hat nach der Zeit im Palitzschhof im Jahr 2012 das Quartier bezogen. Bürozubehör, eine Musikanlage, Handarbeitsmaterialien, Spiele, Bastelzubehör, Bücher und vieles andere mehr vermitteln ohne Worte einen Eindruck von den vielseitigen Angeboten der Einrichtung. Über allem steht das Motto: „Es ist nicht schlimm umzufallen, nur liegenbleiben darfst Du nicht.“ Mit den Angeboten werden unterschiedliche Interessen angesprochen: der Selbsthilfeverein für sozial und finanziell Benachteiligte bietet Beratungen rund um das Thema Hartz IV sowie Ämterbegleitungen an. Neben Informationsveranstaltungen und Seminaren finden auch offene Treffs statt, um Isolation und Einsamkeit keine Chance zu geben. Auch eine Kleinkunstbühne für Konzerte und Buchlesungen gehört zu den Angeboten des Vereins, der nicht nur in den eigenen Räumen aktiv ist. Mit thematischen Stadtteilspaziergängen und Spielplatzwanderungen soll den Einwohnern der eigene Stadtteil und Spielplätze im Stadtgebiet besser bekannt gemacht werden. Dass all diese Angebote von zwei Menschen, dem Ehepaar Stein, initiiert wurden und mit Unterstützung vieler ehrenamtlich tätiger Bürger*innen am Laufen gehalten werden, ist kaum zu glauben und sehr zu bewundern.  

Durch den Hinterausgang geht es weiter Richtung Gemeinschaftsgarten. Nach zwei Stunden Spaziergang freuen sich mittlerweile alle auf eine Rast und eine Stärkung im Grünen. Der Weg führt vorbei an der Kirche Prohlis, die im Rahmen des Kirchenbauprogramms „Kirchen für neue Städte“ entstand und 1982 geweiht wurde. In dem Gemeindezentrum der evangelisch-lutherischen Kirchgemeinde finden Gottesdienste, Gesprächskreise und Gruppen statt.

Im Gemeinschaftsgarten erwartet die Spaziergänger*innen eine lange Tafel im Grünen – auf den Tellern farbenfrohes Obst und Gemüse, in den Krügen Wasser mit frischen Kräutern. Alle genießen es sichtlich, nach der langen Erkundungstour durch die Hochhäuser in der wunderschön gestalteten grünen Oase zu sitzen. Die verschiedenen Einzel- und Gemeinschaftsbeete vermitteln den Eindruck einer bunten Nutzergemeinschaft mit Spaß am Gärtnern. Zwei der Gastgeber erzählen, wie alles entstanden ist. Der Aufbau des sozialräumlich orientierten Gemeinschaftsgartens mit circa 1.000 qm Fläche begann im Mai 2017. Gleich zu Beginn wurden durch Dresdner Schüler und Schülerinnen fünfzig Bäume gepflanzt. Eine Weile wurden auch Bienen gehalten. Schwerpunkte sind ein gutes Miteinander, solidarische Nachbarschaft sowie ein respektvoller Umgang mit der Natur. Alle Interessierten, auch ohne gärtnerische Kenntnisse, sind willkommen. Im Moment sind es etwa 40 Menschen von eins bis neunzig Jahren, die auf der Georg-Palitzsch-Straße unter der Trägerschaft des VSP Dresden (Verbund sozialpädagogischer Projekte e.V.) gärtnern. Darüber hinaus finden an dem grünen Ort auch Workshops, Veranstaltungen sowie kreative Projekte statt. Der Gemeinschaftsgarten ist im Stadtteil mit Vereinen und Initiativen vernetzt. Trotz gelegentlicher Anfeindungen aufgrund der interkulturellen Ausrichtung steht der Gemeinschaftsgarten konsequent für den respektvollen Umgang zwischen Menschen, für Solidarität, die Mitgestaltung des Stadtteils und die Identifizierung mit dem Lebensort. Wie das Konzept individueller Vereinsamung und Isolierung entgegenwirkt, ist an dem langen Tisch, an dem Gemeinschaftsgärtner und Stadtteilentdecker fröhlich gemeinsam sitzen, deutlich zu spüren.

Gefragt nach der Nachbarschaft zu Hause, erzählen Ingrid, 77, Adina, 72, und andere Prohliserinnen, dass die Nachbarschaft früher besser war. Jahresfeste wurden früher immer gemeinsam gefeiert. Nicht alle der neu Eingezogenen grüßen. Ein junger Mann, der immer geholfen hat, ist leider weggezogen. Aber es gibt auch Schönes zu berichten – auf einer Etage wohnen seit vielen Jahren vier Frauen, die sich gut kennen und auch öfter etwas zusammen unternehmen.

Am Ende des entdeckungs- und erfahrungsreichen Tages zeigt ein spontanes Konzert des Prohliser Hausmusikchores im Gemeinschaftsgarten, natürlich mit einer Solo-Einlage von Karl-Heinz, dass Nachbarschaft in Prohlis auch grün und musikalisch sein kann. Die Teilnehmer*innen des Spaziergangs, die aus dem Stadtteil kamen, haben die Verbindung zu ihrem Stadtteil vertieft, alle haben neue Erkenntnisse dazu gewonnen. Es lebt sich gut in Prohlis, einem modernen Stadtteil mit jahrtausendealten Wurzeln und einer berühmten wissenschaftlichen Persönlichkeit in seiner Geschichte. Das nachbarschaftliche Miteinander ist vielfältig und bunt. Der öffentliche Raum wird gemeinsam von vielen Initiativen mit unterstützenden und kulturellen Angeboten und Möglichkeiten der Teilhabe genutzt.

Stadtteilspaziergang in Prohlis
Erzählcafé in Prohlis

08.07.2022 · Stadtteilspaziergang in Prohlis
KIEZ

08.07.2022 · Erzählcafé in Prohlis
Gemeinschaftsgarten Prohlis (VSP e.V.)

Dresdner Nachbarschaften
Damals, Heute, Morgen / Zuhören, Erinnern und Gestalten

In unseren Erzählcafés und Gesprächsrunden, Stadtteilrundgängen und Workshops wollen wir euch ermuntern, Geschichten zu erzählen und Visionen zu entwickeln.

Zeitraum
05-12.2022

Projektbeteiligte
Yvonn Spauschus (Projektleitung)
Anne Ibelings · Moussa Mbarek · Nadine Wölk (Workshopleitung)
Uta Rolland · Rosa Brockelt · Rosa Hauch · Falk Goernert (Dokumentation und Moderation)

Kooperationspartner:innen
JugendKunstschule Dresden · Omse e.V. · Löbtop e.V. · Quartiersmanagement Prohlis, Johannstadt und Gorbitz · Sigus e.V. · In Gruna leben e.V. · UFER-Projekte Dresden e.V.

Gefördert durch

Das Projekt wird gefördert vom House of Resources Dresden+