“Что делать?” – Lenin zwischen Hopp und Pop

Eine Ausstellung zum Umgang mit den Lenin-Denkmälern in den Ländern des ehemaligen Ostblocks

Uljanowsk – Lenins Geburtsort im Windschatten der Erinnerungskultur

Fotografien von Matthias Schumann und Jan Oelker

“Sage mir, wer dich lobt, und ich sage dir, worin deine Fehler bestehen.” Glaubt man diesem Lenin zugeschriebenen Zitat, so scheint der größte Fehler des einstigen Revolutionsführers wohl der gewesen zu sein, in der Sowjetgesellschaft von Anfang an ein nachhaltiges Klima der Kritiklosigkeit gegenüber der Partei und ihren Führern implementiert zu haben. So empfanden es jedenfalls die Autoren bei einem Besuch des Lenin-Memorial-Komplexes, als sie im Sommer 2016 im Rahmen der deutsch-russischen Kulturtage zum ersten Mal nach Uljanowsk reisten.

Eher „Pop“: Lenin-Graffiti in Uljanowsk, © Foto: Matthias Schumann

Vor 150 Jahren, nach gregorianischem Kalender am 22. April 1870, wurde Wladimir Iljitsch Uljanow, der sich später Lenin nannte, in Simbirsk geboren. Diese am rechten Ufer der mittleren Wolga gelegene Handelsstadt bekam zu Ehren ihres berühmtesten Sohnes 1924, ein halbes Jahr nach Lenins Tod, seinen büzgerlichen Familiennamen.

Uljanowsk ist heute eine prosperierende Industriestadt mit mehr als 600.000 Einwohnern. In den riesigen Hangars der Firma Aviastar nahe des Flughafens werden Frachtflugzeuge der Marke Antonow gefertigt, im Uljanowsker Automobilwerk die legendären Geländewagen der Marke UAS, sowie seit 2005 auch ein SUV der Marke „Patriot“.

Um Lenin jedoch, eine der wichtigsten politischen Leitfiguren des letzten Jahrhunderts, ist es auch hier ruhig geworden. Vom Bildersturm nach dem Ende der Sowjetunion blieb Uljanowsk verschont. Aber das Lenin Memorial – ein riesiger Gedenkkomplex, welcher wie ein Sarkophag aus Marmor und Beton das kleine hölzerne Geburtshaus Lenins umschließt, hat Risse bekommen, ist seit 2017 mit einem Bauzaun abgesperrt.

Das Memorial, das 1970 zu Lenins 100. Geburtstag eingeweiht wurde, war als Denkmal, Museum und ideologisches Zentrum zugleich konzipiert. Bis in die 1980er Jahre pilgerten Delegationen kommunistischer Bruderparteien an die Wolga um den Gründer des ersten sozialistischen Staates zu ehren.

Glasnost, die Öffnung sowjetischer Archive, die Perestroika, der Zerfall der Sowjetunion scheinen am Lenin-Memorial vorbeigegangen zu sein. Das Werte-Vakuum, das dem Zerfall des kommunistischen Systems folgte, versetzte diese angestaubte Sammlung von Gemälden, Statuen und Devotionalien der „Heiligenverehrung“ in eine Schockstarre, in der die sowjetische Ideologie  und Propaganda aus der Ära Breschnews bis heute konserviert sind. Seit der Einweihung hat das Museum kein historisch-kritisches Update in der Präsentation, der Lenin-Rezeption und Interpretation der Geschichte der Sowjetunion mehr erfahren. Die einzigen Änderungen der letzten fünf Jahrzehnte sind schmale Schautafeln zu den Präsidenten der UdSSR und Russlands von Stalin bis Putin und die Birken im Innenhof, von denen Leonid Breschnew eine zur Eröffnung des Komplexes pflanzte. Die sind mittlerweile weit über den ersten Stock hinaus gewachsen.

Von Lenins Willen zur Veränderung ist in diesem Museum nichts zu spüren. Vielmehr ist es umgeben von einer Aura des Verharrens im Gewohnten, der Angst vor Neuorientierung, der Unsicherheit bei Neubewertung von Geschichte. Ist es nicht an der Zeit, die über Generationen verinnerlichte Kritiklosigkeit endlich zu überwinden? Denn, so ein weiteres Zitat Lenins: „Schlimmer als blind sein ist nicht sehen wollen.“

Sicherheits-Mitarbeiterin am Hauptraum mit der Lenin-Statue im Lenin-Memorial in Uljanowsk, © Foto: Jan Oelker

Außerhalb dieses Marmorblocks wird Lenin unverkrampft und zeitgemäß adaptiert. In der Stadt findet man Lenin-Graffiti, in Souvenirläden T-Shirts mit seinem Konterfei oder Tassen mit seinen Zitaten. Vor Lenins Geburtshaus gibt sein Double Mikhail Dzhunkovskiy, ein in London lebender Russe mit kanadischem Pass, der sich als Urenkel des Sowjetgründers ausgibt, eine ironische Performance der typischen Lenin-Denkmal-Posen. Tourismus und Pop-Kultur finden spielerische Ausdrucksformen der Interpretation des Phänomens Lenin, die auf ihre Weise unkritisch sind. Eine Kritiklosigkeit, die die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch im Prolog ihres Buches „Second Hand Zeit“ in Frage stellt: „Auf der Straße hab ich junge Leute mit Hammer und Sichel und einem Lenin-Bild auf dem T-Shirt gesehen. Ob sie wissen, was Kommunismus bedeutet?“

“Lenin-Double” Mikhail Dzhunkovskiy vor Lenins Geburtshaus im Museumskomplex in Uljanowsk, © Foto: Jan Oelker

Wie weit Idee und Realität mitunter auseinander klafften, zeigt der Park der Völkerfreundschaft, dessen Überreste sich unterhalb eines aus Berberitzenbüschen bestehenden Leninschriftzuges zwischen Museumskomplex und Wolgaufer erstrecken. Als Symbol der Leninschen Nationalitätenpolitik wurde der Park nach vierjähriger Bauzeit zum 100sten Geburtstag Lenins 1970 eingeweiht. Auf dem fünfunddreißig Hektar großen Gelände schufen Künstler, Botaniker und Architekten aus den fünfzehn ehemaligen Sowjetrepubliken Areale für Pavillons, Skulpturen oder Monumenten, die jeweils landestypische kulturelle Besonderheiten wiederspiegelten und mit charakteristischer Flora bepflanzt wurden. Dieser Park war ein Geschenk der Sowjetrepubliken an die Geburtsstadt Lenins und diese waren auch finanziell für den Erhalt der Parzellen verantwortlich.

Mit dem Zerfall der Staatengemeinschaft verfiel jedoch auch der Park zusehends. Skulpturen wurden entwendet oder zerstört, die Natur übernahm wieder die Oberhand, überwucherte das Gelände. Auffällig ist, dass ausgerechnet bei den Arealen Armeniens und Aserbaidschans eine gewisse Pflege zu erkennen ist. Während sich diese beiden Länder südlich des Kaukasus latent kriegerisch gegenüberstehen, wettstreitet die Uljanowsker Diaspora darum, wer seinem Platz im Park mehr Pflege angedeihen lässt.

Aktuell gibt es wieder Pläne, den Park mit neuem Konzept zu rekultivieren. Genutzt wird er von den Uljanowskern ohnehin, ob als Joggingstrecke oder Pärchentreff, Partylocation oder Drogenumschlagplatz. Der morbide Charme des Areals lockt besonders die Jugend, die es auch als Kulisse für kreative Aktivitäten wie Musik oder Foto-Shootings nutzt.

Foto-Shooting mit Model im Park der Völkerfreundschaft in Uljanowsk, © Fotos: Matthias Schumann

Wird die postsowjetische Generation mit neuem Selbstverständnis dem Park wieder Leben einhauchen können, diesmal als Symbol einer nicht erzwungenen Freundschaft zwischen Völkern mit ähnlichen Erfahrungshintergründen? Schafft es diese Generation mit ihrem Abstand zur Sowjetzeit, die Fragen zu stellen, die nicht nur die heroische Seite Lenins beleuchten? Wenn ja, dann kann auch das Museum sich wandeln, von einem scheintoten Denkmal aus der Sowjetzeit zu einem lebendigen Ort für eine differenzierte und kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte. Ganz im Sinne Lenins: „Klug ist nicht, wer keine Fehler macht. Klug ist der, der es versteht, sie zu korrigieren.“

JO und MS

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